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Zehnter Jahrestag: 11. September 2001: Der amerikanische Weg

In New York haben die Gedenkfeierlichkeiten zum zehnten Jahrestag der Anschläge vom 11. September 2001 begonnen. Wie haben sich die Vereinigten Staaten in den vergangenen zehn Jahren verändert? Und wie hat sich das Bild von Amerika in der Welt gewandelt?

Wo ist das Gefühl der grenzenlosen Freiheit geblieben? An vielen Orten in den Vereinigten Staaten von Amerika sind seit jenem Schicksalstag im September 2001 die Sicherheitszäune emporgewachsen. Selbst wer nur in die Gemäldegalerie in Washington oder New York möchte, muss seine Taschen durchwühlen lassen und durch einen Metalldetektor gehen. Ausländische Touristen fühlen sich schon bei der Einreise unangenehm berührt. Sie müssen am Flughafen ihre Fingerabdrücke abgeben und ein Digitalfoto in den staatlichen Datenbanken hinterlassen. Amerika ist nicht mehr, was es war, seufzen viele Besucher von New York, Washington, Los Angeles und anderen Metropolen.

Mit gleichem Recht darf man freilich das Gegenteil behaupten: Der Alltag der meisten Amerikaner hat sich durch den Terroranschlag vor zehn Jahren nicht nachhaltig verändert. Die Mehrheit der 310 Millionen Einwohner lebt in Kleinstädten oder auf dem Land. Dort sind die Antiterrormaßnahmen nicht spürbar. Die Bürger glauben nicht, dass ausgerechnet ihre Telefonate und E-Mails überwacht werden. Ihre Namen rutschen nicht auf No-Fly-Listen, die sie am Fliegen hindern. Sie haben auch keine Angehörigen in Guantanamo.

Selbst der Einfluss eines außergewöhnlichen historischen Einschnitts auf den Alltag der Menschen ist am Ende relativ. Die Deutschen haben das am Beispiel des Mauerfalls gelernt. Für die Menschen im Osten änderte sich in den Folgejahren alles. Für die Bürger, die im behüteten Westen leben, weder Verwandte in den neuen Ländern haben noch dorthin fahren, beschränken sich die Folgen dieser unerhörten Begebenheit zumeist darauf, dass sie den Solidaritätszuschlag zahlen.

Ähnliches gilt für die Auswirkungen des Terroranschlags von 9/11 auf das Leben in den USA. Für die Angehörigen der rund 3000 Toten ist nichts mehr, wie es war. Ebenso für die Feuerwehrleute und Polizisten, die die vergiftete Luft nahe den noch Wochen schwelenden Trümmerfeldern einatmeten, und natürlich auch für die US-Berufssoldaten. Viele von ihnen waren in den Jahren nach dem raschen Sieg im ersten Golfkrieg 1991 zur Befreiung Kuwaits in die Armee eingetreten und hatten sich auf eine friedliche Epoche unangefochtener „Pax Americana“ eingerichtet. Doch dann mussten sie in raschen Intervallen in hochgefährliche Einsätze in Afghanistan und im Irak ziehen. Nicht wenige von ihnen sind gefallen, viele wurden verwundet und leiden bis heute.

Amerika hat durch 9/11 viel von seiner Unbeschwertheit verloren. Die Menschen leben im Gefühl, der nächste Anschlag komme bestimmt; es sei nur eine Frage der Zeit. Aber sie haben gelernt, mit der Bedrohung umzugehen. Militärobjekte und Forschungsinstitute werden heute schärfer geschützt. Früher durfte jeder das Gelände des National Institutes of Health am nördlichen Stadtrand von Washington betreten. Dort wird unter anderem an gefährlichen Viren geforscht. Vor 2001 konnten sich die vielen tausend Angestellten mittags bei fliegenden Händlern mit Lebensmitteln versorgen. Das ist vorbei. Besucher haben weiter Zutritt, darunter Patienten aus allen Landesteilen, die an seltenen oder schwerwiegenden Krankheiten leiden. Sie müssen sich nun ausweisen, ihre Autos werden auf Sprengstoff untersucht.

Doch fern der Hauptstadt Washington und des Finanzzentrums Manhattan leben die Bürger im Grunde wie eh und je. Selbst in vielen Hauptstädten der 50 Bundesstaaten hat sich wenig geändert. Das Capitol in Concord, der Hauptstadt New Hampshires, kann man weiterhin ohne Kontrolle betreten. Der Neuenglandstaat ist generell eine trotzige Bastion der Bürgerfreiheiten. „Live free or die“, steht als Wahlspruch auf den Autokennzeichen. Auch in Cheyenne, Wyoming, ist man stolz darauf, dass die Tür zum Amtszimmer des Gouverneurs offen steht. Wer nicht nur New York und Washington, Los Angeles und San Francisco besucht, sondern sich in die Weiten der USA aufmacht, nach Montana und North Dakota, nach Iowa und Missouri, nach Arizona und Texas, der wird vom Einfluss der Terrorangriffe am 11. September 2001 wenig spüren. Joe Average, der Durchschnittsamerikaner, fühlt sich von der Verschärfung der Sicherheitsgesetze, der Einschränkung der Bürgerrechte und der Praxis der Terrorabwehr persönlich nicht sonderlich betroffen.

Lesen Sie auf der kommenden Seite, wie die Amerikaner auf die Terrorbekämpfung der letzten zehn Jahre zurückblicken.

Der Rückblick der Amerikaner auf die vergangenen zehn Jahre ist vergleichsweise milde. Mag sein, dass ihr Land damals überreagiert hat. Aber unter dem Schock des Anschlags konnte niemand wissen, wie groß die Gefahr war. 9/11 war der erste Angriff auf amerikanisches Territorium seit 60 Jahren – seit dem Überfall der Japaner auf Pearl Harbor 1941. Heute ist das Wichtigste für die Bürger, dass seit 2001 kein weiterer Terroranschlag mit unzähligen Toten in Amerika gelungen ist. Versuche dazu gab es mehrfach. Die USA hatten schlicht Glück. Zum Beispiel in den Weihnachtstagen 2009, als ein Nigerianer Sprengstoff in seiner Unterwäsche an Bord eines US-Flugzeugs von Amsterdam nach Detroit schmuggelte. Oder am 1. Mai 2010, als eine Autobombe am Times Square in New York nicht explodierte. Für die Zeit um den Jahrestag 2011 warnen Experten vor Angriffen auf Züge und Ölraffinerien.

Deshalb hat eine Mehrheit der Bürger bis heute wenig dagegen einzuwenden, wenn der Staat zu robusten Abwehrmaßnahmen greift. Einen Teil der Methoden, die George W. Bush eingeführt hatte, erklärten Gerichte später für rechtlich bedenklich. Aber auch das bereitet den meisten Bürgern wenig Gewissensbisse. Sie sehen darin vielmehr den Beleg, dass ihr System von „Checks and Balances“ funktioniert. Amerikanische Anwaltsverbände und Bürgerrechtsgruppen erhoben Einspruch gegen die Aushebelung des Rechtssystems, klagten gegen ihre Regierung und erzwangen viele Korrekturen per Gerichtsurteil.

Auch in Guantanamo gilt das US-Recht. Die Insassen haben Anspruch auf Rechtsanwälte. Sie dürfen die Gründe ihrer Gefangenschaft anfechten und überprüfen lassen. Die Genfer Konventionen mit ihrem Schutz vor Folter, grausamer oder entwürdigender Behandlung ist anzuwenden. Und der Präsident kann Militärtribunale nicht aus eigener Machtvollkommenheit einrichten; er braucht die Zustimmung des Parlaments.

Andere Auffassungen Bushs bestätigte der Supreme Court. Zum Beispiel das Konzept des „Illegal Enemy Combattant“ – eines „illegalen feindlichen Kämpfers“, der weniger Rechte habe als ein regulärer Kriegsgefangener, weil er sich selbst nicht an die Vorschriften der Genfer Konventionen halte, darunter die Vorgaben zum Schutz der Zivilbevölkerung und die Pflicht, eine Uniform zu tragen, um als Beteiligter der Feindseligkeiten erkennbar zu sein. Die Verfassungsrichter urteilten auch, dass die Aburteilung der Terrorverdächtigen vor Militärtribunalen rechtens sei; sie müssen nicht vor zivile Strafgerichte gestellt werden.

Trotz all dieser Veränderungen in der Terrorabwehr lebte die Stimmung der Angst vor neuen Anschlägen fort und ebenso der Populismus der meisten Abgeordneten. Sie stimmten 2006 lieber für ein neues Gesetz zum Umgang mit Terrorverdächtigen, das immer noch eine Reihe fragwürdiger Bestimmungen enthielt, als sich dem Vorwurf auszusetzen, sie seien „zu weich“ bei der Terrorabwehr. Bei dieser Feigheit der Parlamentarier vor den Wählern ist es bis heute geblieben. Sie ist das Haupthindernis für Präsident Obamas Pläne, Guantanamo zu schließen.

Die Kriege in Afghanistan und im Irak neigen sich dem Ende zu. Eine deutliche Mehrheit der Amerikaner ist heute der Meinung, sie seien die Opfer an Gefallenen und Steuergeldern nicht wert gewesen. Sie fragen, wie viel besser die heimische Wirtschaft dastünde, wenn die vielen Milliarden Dollar in Straßen und Brücken in Kansas investiert worden wären statt in Kandahar (Afghanistan) – und in Schulen und Universitäten in Missouri statt in Mossul (Irak).

Die Tötung des Al-Qaida-Anführers Osama bin Laden durch ein Spezialkommando in seinem Versteck in Pakistan im Mai 2011 war für die Amerikaner der psychologische Schlussstrich unter den Afghanistankrieg. Jetzt geht es nur noch um den Abzug – nur bitte nicht überstürzt, sondern so geduldig und allmählich, dass Afghanistan nicht bald wieder ins Chaos zurückfällt.

In Manhattan wächst an der Stelle, wo einst die beiden Türme des World Trade Center standen, ein neuer Komplex aus Wolkenkratzern in den Himmel. 541,3 Meter wird das One World Trade Center messen, deutlich höher als die 417 und 415 Meter der zerstörten Zwillingstürme. 2014 wollen die USA und ihre Verbündeten die letzten Kampftruppen aus Afghanistan abziehen. Bin Laden ist tot, doch vielerorts konspirieren Extremisten, um Anschläge zu verüben. Guantanamo existiert weiter. Die Menschen, die dort zu Recht oder Unrecht gefangen gehalten werden, rücken langsam ins Vergessen.

Nur für ganz kurze Zeit nach 9/11 stand die Terrorgefahr an der Spitze der Liste der gefühlten Bedrohungen in den USA. Sehr bald haben andere Ängste sie wieder überflügelt: die Angst vor Krankheit oder dem Verlust des Arbeitsplatzes, die Sorge um die Angehörigen und die finanzielle Sicherheit der Familie. In den zehn Jahren seit 9/11 haben die Amerikaner auch lernen müssen, wie lange es dauert, bis ein Staat sich von den Sondermaßnahmen, die ein so außergewöhnliches Ereignis wie die Terrorangriffe auf New York und Washington auslöste, wieder befreit.

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