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Politik: Zeichen setzen mit Anne Frank

Eine Lesung nahe dem Ort, an dem Rechtsextreme das Tagebuch verbrannten

Von Frank Jansen

Wolfgang Böhmer hält das aufgeklappte Taschenbuch in der Hand. „Juden müssen einen Judenstern tragen, Juden müssen ihre Fahrräder abgeben, Juden dürfen nicht mit der Straßenbahn fahren, Juden dürfen nicht mit einem Auto fahren, auch nicht einem privaten.“ So geht es eine halbe Seite lang weiter. 200 Schülerinnen und Schüler sowie mehrere Lehrer hören dem Ministerpräsidenten von Sachsen- Anhalt zu. Die Mienen sind erstarrt. Der CDU-Politiker spricht fest, als wolle er dem Publikum den Text einimpfen.

Der Text ist Teil eines der tragischsten Werke der Weltliteratur, des Tagebuchs der Anne Frank. Des jüdischen Mädchens, das sich mit seiner Familie in Amsterdam vergeblich vor den Nazis versteckte und 1945 im KZ Bergen-Belsen starb. Ein Exemplar des Buches haben Rechtsextremisten am 24. Juni im Dorf Pretzien bei einer „Sonnenwendfeier“ verbrannt. Zuvor war eine Fahne der USA in Flammen aufgegangen. Vor 80 Schaulustigen, darunter der Bürgermeister.

Als die Tat bekannt wurde, brach über Sachsen-Anhalt hinaus Empörung aus. Zumal im Januar im nahen Pömmelte vier Jungrechte einen dunkelhäutigen Jungen gefoltert hatten. Böhmer erkannte, dass er ein Zeichen setzen musste. Und verabredete mit weiteren Prominenten diese Lesung aus dem Tagebuch der Anne Frank. Im Berufsschulzentrum von Schönebeck, der „Hauptstadt“ des gleichnamigen Kreises, in dem auch Pretzien und Pömmelte liegen. Böhmer wählte den modernen Komplex mit etwa 2000 Auszubildenden, um möglichst viele Jugendliche zu erreichen. Das Foyer im zweiten Stock ist voll.

Nach Böhmer rezitieren der US-Generalkonsul aus Leipzig, Mark D. Scheland, Landtagspräsident Dieter Steinecke (CDU), Justizministerin Angela Kolb (SPD) und der Schauspieler Peter Sodann. Dann wird ein Schülervideo gezeigt, mit großen Mengen aufgestapelter Kinderschuhe aus dem KZ Majdanek. Die Jugendlichen sind bedrückt. Schulleiter Ronald Rumpf auch. Mit zitternder Stimme versucht er, eine Diskussion in Gang zu bringen. Es dauert. Schließlich meldet sich eine Lehrerin und klagt, die Justiz verhänge zu niedrige Strafen. Dann traut sich eine Schülerin und fordert ebenfalls härtere Strafen für rechte Schläger. Und sie berichtet, wie Rechtsextremisten sie mit einer obszön- antijüdischen Vokabel beleidigten.

Hinterher sagen Lehrer, die Schule selbst habe keine Probleme mit Rechten. Vielmehr hätten zwei Schüler, die in Pömmelte mitgequält hatten und auf Bewährung davonkamen, „aus Sicherheitsgründen“ in ein Praktikum geschickt werden müssen. „Die wären hier sonst zusammengeschlagen worden“, sagt ein Lehrer.

Böhmer verlässt die Lesung in Richtung Pretzien, um sich mit dem Bürgermeister zu unterhalten. Und es wurde erst jetzt ein weiterer Vorfall bekannt: Rechtsextremisten aus Pretzien, womöglich auch Mittäter der Buchverbrennung, grölten am Himmelfahrtstag in Plötzky Nazi-Parolen. Die Polizei sah zu, sagen Zeugen.

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