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Zensus 2011: Gesetze müssen nach Volkszählung neu geprüft werden

Es ist die erste Volkszählung seit über 20 Jahren. Der „Zensus 2011“ rückt nun die Bevölkerungsstatistik zurecht. In Deutschland leben weniger Menschen, als bisher angenommen. Welche Folgen hat das?

Von Matthias Schlegel

2011 war alles anders als 1987. Damals erhob sich in der alten Bundesrepublik gegen die Absicht, das Volk zu zählen, im Vorfeld ein Proteststurm. „Meine Daten gehören mir“, wurde den Initiatoren entgegengeschleudert und die Angst davor, zum „gläsernen Bürger“ zu mutieren, war allgegenwärtig. Im Jahr 1983 hatte das Bundesverfassungsgericht die Zählung ausgesetzt, die Datenerhebung musste eingeschränkt werden – eine erste grundsätzliche Entscheidung zugunsten des Datenschutzes.

Jeder Bürger sollte selbst über seine Daten entscheiden können. Die Volkszählung musste nach dem Urteil um vier Jahre verschoben werden. 24 Jahre später, im längst wiedervereinigten Deutschland, war nur hier und dort ein leichtes Grummeln zu vernehmen, als der „Zensus 2011“ anstand, zumal die Volkszählung diesmal mit einer umfangreichen „Imagekampagne“ vorbereitet wurde. Nun, wiederum zwei Jahre später, liegen die gewonnenen Daten der Öffentlichkeit vor – und bergen eine ganze Reihe von Überraschungen.

Warum war der „Zensus 2011“ nötig?

Die Europäische Union hatte alle Mitgliedsstaaten verpflichtet, im Jahr 2011 eine „Inventur“ der Datenbasis durchzuführen – und dies künftig alle zehn Jahre zu wiederholen. Die Zahlengrundlage für viele Entscheidungen in Politik und Verwaltung waren doch deutlich in die Jahre gekommen. Immerhin lag die letzte Volkszählung in der Bundesrepublik 24 Jahre zurück.

Zwar wurden alle wesentlichen Daten zu Veränderungen bei der Bevölkerungsentwicklung, dem Ausländeranteil, der Altersstruktur, dem Bildungsstand und anderen registriert. Die Statistik nennt das die „amtliche Bevölkerungsfortschreibung“. Doch diese basierte in der alten Bundesrepublik eben auf den Ausgangswerten von 1987. Für Ostdeutschland konnte man hingegen auf das zentrale Einwohnermelderegister aus dem Oktober 1990 zurückgreifen – ein Instrument, das es in Westen der Republik auf Bundesebene nicht gab.

Warum hat es zwei Jahre gedauert, bis die Daten vorgelegt wurden?

Der Präsident des Bundesamtes für Statistik, Roderich Egeler, verweist auf die komplizierten Berechnungen. Die Daten, die man selbst erhebe, könne man rasch weiterverarbeiten. Doch um den

„Zensus 2011“ so – wie Egeler sagt – „belastungsarm wie möglich“ für die Bevölkerung durchzuführen, habe man sich neben den Befragungen sehr umfangreich bereits vorhandener Daten bedient: Angaben aus Einwohnermelderegistern oder Personenregistern der Bundesagentur für Arbeit.

Diese Rohdaten wiederum hätten zunächst aufwändig aufbereitet und „fit gemacht“ werden müssen. Zudem habe man eine Reihe von Plausibilitätsprüfungen vorgenommen, um die Daten zu bereinigen. Das brauche alles Zeit.

Was waren die größten Überraschungen im „Zensus 2011“?

Das waren zweifellos die großen Differenzen bei der Gesamteinwohnerzahl in Deutschland und der Zahl der hier lebenden Ausländer. Dass hier das „Zensus“-Ergebnis um 1,8 Prozent von der bisherigen Datenbasis abweicht und bei der Zahl der in Deutschland lebenden Ausländer gar um fast 15 Prozent, hat selbst die Statistiker überrascht. Der Präsident des Bundesamtes für Statistik, Roderich Egeler, wollte den starken Rückgang der Ausländer-Zahlen nicht kommentieren. Nahe liegt aber die Vermutung, dass sich viele Ausländer bei ihrem Wegzug aus Deutschland nicht bei den Behörden abmelden.

Einige Gesetze müssen neu geprüft werden

Welche Auswirkungen haben die Abweichungen?

Statistik ist die Grundlage für vielerlei Entscheidungen in Politik und Verwaltung. Viele Gesetze oder Gesetzesinitiativen fußen auf statistischen Grundlagen, orientieren sich an Pro-Kopf-Angaben, weisen Mittel auf statistischer Basis zu, etwa beim Länderfinanzausgleich. Deshalb müssen nun alle Gesetze gecheckt werden, ob sich die neuen Zahlen darauf auswirken. Und die Wiesbadener Statistiker selbst müssen ihren gesamten Datenbestand aktualisieren, weil viele statistische Angaben auf Bevölkerungs- beziehungsweise Pro-Kopf- Zahlen basieren.

Auswirkungen könnte es auch auf die künftige Zusammensetzung des Bundesrates geben. Dort sind die Bundesländer mit unterschiedlichem Stimmengewicht vertreten – je nach ihrer Einwohnerzahl. Hessen zum Beispiel hat zur Zeit in der Länderkammer fünf Stimmen – weil es mehr als sechs Millionen Einwohnern hat, zumindest nach bisherigem Stand. Der „Zensus 2011“ weist nun für Hessen nur 5 971 816 Einwohner aus, Hessen müsste also eine Stimme abgeben. Doch nach Auskunft des Bundesrates hat das hessische statistische Landesamt nach der heutigen Veröffentlichung der Zahlen die Länderkammer darüber informiert, dass die Fortschreibungen seit dem „Zensus 2011“ derzeit wieder eine Einwohnerzahl von über sechs Millionen ausweisen – damit bleibt Hessen vom Stimmenentzug verschont. Das Saarland, dessen Einwohnerzahl vom Zensus mit 999 623 angegeben wurde, sank zwar unter die Millionengrenze, muss aber ebenfalls im Bundesrat keine Stimme abgeben, weil Artikel 51 des Grundgesetzes kleinen Ländern in der Länderkammer eine Mindeststimmenzahl von drei zuerkennt.

Gab es diesmal auch datenschutzrechtliche Bedenken?

Der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar bemängelte, dass nicht alle seine Vorschläge vom Gesetzgeber oder von den beteiligten Behörden übernommen worden seien. Es seien mehr Daten erhoben worden als europarechtlich vorgegeben war. So sei nicht vorgeschrieben gewesen, die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft und das religiöse Bekenntnis abzufragen. Die Erforderlichkeit habe auch „nicht überzeugend dargelegt werden“ können“, kritisierte Schaar.

Problematisch ist nach Auffassung Schaars auch, dass „in sensiblen Sonderbereichen, wie etwa in Justizvollzugsanstalten“, personenbezogene Erfassungen durchgeführt worden seien. Seiner Ansicht nach sollte beim nächsten von der EU geforderten Zensus im Jahr 2021 die Gebäude- und Wohnungszählung nur als Stichprobe ausgestaltet werden. Die Auskunftsansprüche der Bürger über den „Zensus“ sollten bundesweit einheitlich geregelt werden.

Wie zuverlässig sind die Zahlen?

Dass die Statistiker vom Bundesamt ihren eigenen Zahlen vertrauen, mag nicht besonders verwundern. Sie seien „von hoher Qualität“, sagt Amtschef Egeler. Insofern ist es schon bemerkenswert, wenn sie Einschränkungen machen. Diese betreffen konkret die Befragungen zur Religionszugehörigkeit. Dass 17,4 Prozent der Befragten keine Angaben dazu machen wollten, welcher Religion sie anhängen, bringt eine für Statistiker ziemlich unerträgliche Unschärfe in die Gesamterhebung. So bekannten sich nur 1,9 Prozent zum Islam, gar nur 0,1 Prozent zum Hinduismus. Es sei „davon auszugehen, dass gerade die Anhänger dieser Religionen überproportional häufig von der Möglichkeit Gebrauch gemacht haben, auf die Beantwortung der Frage zur Religionszugehörigkeit zu verzichten“, sagt Egeler und gesteht ein: „Das bedeutet bedauerlicherweise auch, dass der ,Zensus 2011’ keine verlässlichen Ergebnisse zu diesen Religionen in Deutschland bereitstellen kann.“

Was passiert mit den Daten?

Nachdem sie ausgewertet sind, was gegenwärtig noch andauert, werden die gesammelten Daten nach Auskunft des Bundesamtes „sukzessive“ wieder gelöscht. Generell müssen alle beim „Zensus 2011“ erhobenen Daten innerhalb von vier Jahren komplett gelöscht sein.

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