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Wer macht was, und wer schaut dabei zu? Streetart in Rom.

© AFP

Zivilcourage: Was braucht die Zivilgesellschaft?

Zwei Momentaufnahmen von Gewalt und Verdrängung, die zeigen, wie sehr die Gesellschaft davon lebt, dass Menschen sich einmischen, und wie schwer das ist. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Peter von Becker

Dies sind zwei Geschichten, aus Italien und Ostdeutschland – als Erlebnisse hängen sie sonderbar zusammen. Kürzlich zu Besuch in Rom warte ich am Rande der Piazza del Popolo eine halbe Stunde auf den Autobus der Linie 89. Es ist früher Abend, ein rumpeliger Wagen, der von dort schließlich durch den schon dunklen Park der nahen Villa Borghese in den gutbürgerlichen Nordosten der italienischen Hauptstadt rattert.

Ich werde bei Freunden zum Abendessen erwartet und kenne die Strecke bisher nicht. Bald merke ich, dass zu den Eigenarten des hier ohnehin herausfordernden öffentlichen Transportwesens das Fehlen von Hinweisen auf die angefahrenen Stationen gehört. Der Bus rattert offenbar an den meisten, in der Dunkelheit nicht mehr erkennbaren Haltestellen vorbei. Also gehe ich nach vorne und bitte den Fahrer in seinem Glasverschlag, bei meiner gewünschten Station ein Signal zu geben und zu stoppen. Im selben Moment drängt sich jemand und dann noch jemand an mir vorbei, es ist ein Mädchen von vielleicht 16, 17 Jahren, hinter ihr ein kleiner, älterer stämmiger Mann in ausgebeulten Jeans mit nackten Armen im T-Shirt.

Das Mädchen will offenbar hinter die Schranke neben der Fahrerkabine, da umarmt der Mann die junge Frau und küsst sie auf den Mund, drängt sie in die vorderste Busecke, das Mädchen schreit entsetzt auf, und als der Mann weiter über sie herfällt, stürzt ein etwa 40-Jähriger im dunklen Büroanzug, wohl ein Angestellter auf der Fahrt in den Feierabend, herbei, stößt den Vergewaltiger zur Seite, stellt sich vor das Mädchen und sagt etwas in dem Sinne: Weg hier, das ist meine Verlobte! Worauf der stämmige Mann ihn ein „Stück Scheiße“ nennt. Das meiste verstehe ich nicht, es ist derber römischer Dialekt, und der Kerl läuft mit weiteren Beschimpfungen zurück in den hinteren Teil des halb leeren Busses, wo sich ein paar Frauen und Kinder aufkreischend zusammendrängen.

Öffentliche Verwahrlosung, folgenloser Aufstand

Das ist in Sekunden geschehen. Es wirkt unwirklich, alptraumhaft. Eher instinktiv wende ich mich an den Fahrer, fordere ihn auf, zu stoppen und die Carabinieri zu rufen. Aber der Fahrer, ein Handy zur Hand, schüttelt den Kopf, schließlich hält er, um das völlig panische junge Mädchen aussteigen zu lassen, in eine nachtdunkle Straße. Dann beginnt der prekäre Unhold aus einem Jutebeutel ein Handy zu fingern und ruft jemanden an, pöbelt laut, dass in seinem Bus gerade eine Scheiße los sei.

Die Frauen von hinten schreien nun auch nach den Carabinieri, hierauf hält der Busfahrer wieder und lässt den Gewaltmenschen aussteigen, fährt weiter. Eine Mutter mit Tochter ruft empört, dass so einer einfach davonkomme, und der tapfere Angestellte, dem ich mit stammelndem Italienisch für sein Einschreiten danken will, winkt ab, höflich, resigniert, er steigt beim nächsten Halt aus. Die römischen Freunde meinen später beim schönen Abendessen, das Erlebnis beschreibe im Schlechten wie im Guten den Zustand Italiens und insbesondere die Situation Roms: öffentliche Verwahrlosung, Kriminalität, sich meist folgenlos empörender Anstand, die Zivilcourage von Einzelnen, aber die allein mache noch keine Zivilgesellschaft. Szenenwechsel. Ähnlich sprechen (vor allem ausländische) Beobachter inzwischen über Teile (vor allem) Ostdeutschlands. Zuletzt das Versagen von Staat, politischer Kultur und Zivilgesellschaft bei den Pöbeleien in Dresden zur deutschen Einheitsfeier. Von der ständigen Gewalt gegen Flüchtlinge, Politiker, Journalisten, Pfarrer und andere nicht zu reden.

Warum schweige ich?

Viele Analysen sprechen da von einer fehlenden positiven Identität. PDS und Linke hätten nur Geschichtsverdrängung oder Nostalgie als Identitätsersatz angeboten. Beides gibt’s freilich auch ganz kapitalistisch gewendet. Das Schlosshotel Schkopau, mit großem Park, Konferenzzentrum und Hubschrauberlandeplatz eine der attraktivsten Herbergen zwischen Leipzig und Weimar, sehr nahe den Kulturstädten Merseburg und Naumburg, es lädt kurz vorm Mauerfalljubiläum zu einem Extraprogramm am 4.11.:
„Lang, lang ist es her. Verstehen Sie ,Ostdeutsch’? Antreten zum Fahnenappell! – Erleben Sie eine Reise zurück in die DDR inkl. 3-Gang-Menü oder Buffet. Programm, Erinnerungen, typische Gepflogenheiten aus dieser Zeit. Seid ihr bereit!?“
Das kostet 35 Euro pro Person, im Hotel beworben mit Hammer und Sichel. Ich habe das Plakat am Morgen nach einer Übernachtung gesehen und geschwiegen. Aus Trägheit, Fremdscham, Resignation – und selbst in der Komfortzone mangelnder Zivilcourage?

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