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Politik: Zu spät

Kevin hatte drogenabhängige Eltern. Jetzt ist er tot. Die Bremer Justiz ermittelt gegen die Sozialbehörden

Niemand konnte wissen, dass Kevin, der Sohn drogenabhängiger Bremer, seinen dritten Geburtstag nicht mehr erleben würde. Und doch: Es gab Hinweise, dass der alleinerziehende Vater überfordert war und dass die Bremer Behörden stärker hätten eingreifen müssen. Nun ist Kevin tot. Seine Leiche wurde am Dienstag im Kühlschrank des 41-jährigen Vaters gefunden – als Amtsmitarbeiter und Polizisten das Kind in eine Pflegefamilie bringen wollten. Der Körper des Jungen wies zahlreiche Verletzungen auf.

Selten sah man Bremer Politiker so bedrückt wie in diesem Fall. Sozialsenatorin Karin Röpke (SPD) sprach von einem „ganz schrecklichen Fall, der uns fassungslos macht, der mich tief bestürzt“. Am Mittwoch trat die 51-Jährige zurück – sieben Monate vor der Bürgerschaftswahl und einen Tag vor einem Misstrauensantrag der Grünen in einer ganz anderen Sache: Bei einer Korruptionsaffäre in einer städtischen Klinik habe ihre Aufsicht versagt. Diesen Vorwurf hätte die Senatorin gerne pariert – nun stürzte sie über die Umstände des Todes von Kevin.

Die Vorgeschichte begann im November 2005. Damals starb die drogensüchtige Mutter von Kevin. Der Junge wurde in einem Waisenhaus untergebracht, wo er schon einmal war – wegen rätselhafter Knochenbrüche. Für diese Verletzungen hatten die Behörden die Mutter im Verdacht. Nach ihrem Tod konzentrierte sich die Justiz auf den Vater, der nach amtlichen Angaben wegen Gewalttaten vorbestraft ist.

Während sich bei der Staatsanwaltschaft eine Einstellung des Verfahrens gegen den Vater abzeichnete, beschloss die Sozial- und Jugendbehörde als Amtsvormund, dass Kevin wieder zum Vater zurückkehren könne. Der Grund: gute Prognosen seiner Drogenentzugs-Therapeuten. Damit war der Heimleiter des Waisenhauses jedoch nicht einverstanden. Deshalb kam das Thema im Trägerverein der Einrichtung zur Sprache, in dem auch Bürgermeister Jens Böhrnsen (SPD) sitzt. Dort wurde große Sorge darüber geäußert, dass Heimkinder in Bremen zu schnell an ihre Eltern zurückgegeben würden. Dabei ging es auch um den Fall Kevin.

Böhrnsen griff die Warnungen auf und informierte Röpke. Die wiederum sorgte dafür, dass ihre zuständigen Abteilungen „eine besondere Aufmerksamkeit“ auf den Fall Kevin legen sollten. In der Tat wurden „Fallkonferenzen“ einberufen. Der überforderte Vater erhielt Hilfsangebote wie etwa eine Tagesmutter für das Kind, auf die er zunächst einging, sie dann aber ablehnte.

Eine Familienrichterin habe mehrfach die Jugendbehörde gedrängt, dass etwas geschehen müsse, berichtete Böhrnsen, der auch das Justizressort leitet. Doch erst Monate nach der Rückkehr des Kindes in die väterliche Wohnung beantragte die Behörde eine amtliche „Inobhutnahme“: die Verlegung in eine Pflegefamilie. Das Familiengericht stimmte am 2. Oktober zu, und acht Tage später kam die Amtsdelegation zum Abholen des Kindes – zu spät.

Im Juli war Kevin zuletzt lebend gesehen worden. Seitdem hatte sich offenbar niemand die Mühe gemacht, einen Hausbesuch zu machen. Lag es an der Personalnot? „Dafür spricht nicht sehr viel“, meint Röpkes Staatsrätin Birgit Weihrauch. Aber allseits bekannt ist die Belastung des Personals. Außerdem ist das Ressort unüberschaubar groß, so dass die Aufsicht über die einzelnen Abteilungen schwer fällt.

Trotz des tragischen Todes warb Röpke auch um Verständnis für die schwierigen Abwägungsprozesse in den Behörden: Auch Süchtige – in diesem Fall ein Vater, der mit der Ersatzdroge Methadon behandelt wurde und offenbar zusätzlich viel Alkohol trank – hätten laut Grundgesetz ein Recht auf ihre Kinder. Da müsse in jedem Einzelfall geprüft werden, ob das Wohl des Kindes eine Trennung von der Familie erfordere. Aber gerade Methadon-Empfänger, die in die gesellschaftliche Normalität zurückkehren wollten, müssten „sehr genau begleitet“ werden. Und gerade bei Kindern mit Amtsvormundschaft müsse sich der Staat „um das Wohlergehen sorgen und das Kind schützen“, sagt Röpke. „Das ist in diesem Fall auf tragische Weise misslungen.“

Laut Böhrnsen ist im Fall Kevin „das Nötigste und Dringendste nicht geschehen“, nämlich das Kind dem Vater wegzunehmen. Die Ermittlungen der Justiz richten sich nicht nur gegen den inhaftierten Vater, sondern auch gegen Behördenmitarbeiter – wegen möglicher Verletzung der Fürsorgepflicht.

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