zum Hauptinhalt
Auch Worte können weh tun, aber darum geht es in der Demokratie: das auszuhalten.

© Getty Images

Zum Tag der Pressefreiheit: Redefreiheit braucht keine Umgangsformen

Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels fordert mehr Respekt für Meinungsäußerungen. Aber man muss auch Unerträgliches ertragen können. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

So steht es im Katechismus der Katholischen Kirche: „Unzucht ist die körperliche Vereinigung zwischen einem Mann und einer Frau, die nicht miteinander verheiratet sind. Sie ist ein schwerer Verstoß gegen die Würde dieser Menschen.“ An anderer Stelle heißt es: „Homosexuelle Handlungen verstoßen gegen das natürliche Gesetz. Sie sind in keinem Fall zu billigen.“ Solche Sätze sind vom Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt. Sie können aber durchaus als Form der Diskriminierung und Hetze empfunden werden.
Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels hat eine „Charta der Meinungsfreiheit“ veröffentlicht. Sie umfasst elf Punkte. Ab diesem Montag, dem Internationalen Tag der Pressefreiheit, sind eine Woche lang bundesweit Aktionen geplant, auf denen auch über die Charta diskutiert werden soll. Unterstützt wird sie von mehreren Prominenten. Eine von ihnen, die Publizistin Jagoda Marinić, betont, alles müsse sagbar bleiben, „so lange es die Würde des anderen respektiert“. Außerdem müsse verhindert werden, „dass Menschen Hass und Hetze verbreiten“.

„Soldaten sind Mörder“: Auch das ist erlaubt.

Dazu heißt es wörtlich in der Charta, Punkt 5: „Hetze und Hass werden nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt, sondern beschädigen sie. Die Meinungsfreiheit endet da, wo die Würde eines Menschen angegriffen wird.“ Und in Punkt 4: „Meinungsfreiheit verpflichtet zu einem Umgang, der von gegenseitigem Respekt, Zuhören, Ausredenlassen, Reflexion und argumentativem Abwägen geprägt ist."

Nein, das tut sie nicht. Meinungen können ironisch oder sarkastisch sein, zynisch oder verletzend, sie können in Polemik, Satire, Spott oder Pamphleten ausgedrückt werden. Sie können den Konsens gefährden, den gesellschaftlichen Frieden stören, wahr oder falsch sein. Verboten sind in Deutschland Mordaufrufe, Beleidigungen, Volksverhetzung und die Leugnung des Holocaust. Doch selbst die Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts fällt „nicht automatisch aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit“, wie das Bundesverfassungsgericht vor zehn Jahren feststellte. „Soldaten sind Mörder“: Auch das ist erlaubt.

Für „Hass“ und „Hetze“ gibt es keinen objektiven Maßstab

Die Absicht des Börsenvereins ist zweifellos honorig und von der Hoffnung auf mehr manierliche Diskurse geprägt. Aber für Begriffe wie „Hass“ und „Hetze“, „Respekt“ und „Abwägen“ gibt es keinen objektiven Maßstab. Muslime fühlten sich in ihrer Würde durch Mohammed-Karikaturen in einer dänischen Zeitung verletzt. Das müssen sie aushalten, hieß es. Als dann ein 26-Jähriger aus Berlin-Hellersdorf das Bild des ertrunkenen Flüchtlingskindes Alan Kurdi mit den Worten kommentierte „Wir trauern nicht, sondern feiern es“, wurde nach einer harten Strafe gerufen. Einige Lockdowner äußern sich aktuell verächtlich über „Querdenker“, einige „Querdenker“ agitieren gegen eine vermeintliche „Corona-Diktatur“. So ist das in einem Gemeinwesen, zu dessen Wesen manchmal Gemeinheiten gehören.
Die Stärke einer Gesellschaft misst sich eben nicht in erster Linie an ihrer Fähigkeit zum rationalen, herrschaftsfreien Diskurs, sondern daran, wie viel Dissens sie aushält. Der Versuchung, im Namen einer Zivilität den erlaubten Diskussionsraum zu verkleinern, um Gefühle zu schonen, muss widerstanden werden. Die Freiheit des Wortes und der Rede zu verteidigen, kann auch heißen, Unerträgliches zu ertragen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false