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Zum Tod von Tissy Bruns: Träumen bleibt möglich

Ihre Augen konnten blitzen. Unternehmungslustig. Und manchmal hat es auch gefunkt, wenn die Journalistin Tissy Bruns in der Nähe war. Sie war eine unermüdliche Debattiererin. Weil sie immer das Schlechte gut und das Gute besser machen wollte. Zum Tod einer Kollegin, die wir nicht vergessen.

Von Robert Birnbaum

Was hätte sie uns heute zum Beispiel alles schreiben können! Über die rot-grünen Niedersachsen, die das Sitzenbleiben bleiben lassen wollen. Über diese Freien Demokraten, die urplötzlich ein Herz für einen halben Mindestlohn entdecken und die sie grade deshalb weiter sonderbar gefunden hätte. Oder über die alte Tante SPD, den Kandidaten und das, was in all den Alltagsdebatten trotzdem bleiben muss als Anspruch für ein besseres Leben, heute und hier. Sie hat das alles ja bis zuletzt verfolgt, hellwach, begeistert, empört, je nachdem. Nur zum Schreiben reichte die Kraft schon lange nicht mehr, die hat der Krebs aufgezehrt. Am Mittwochabend ist Tissy Bruns gestorben.

„Ich komme von drüben.“ Aus Zeitz nämlich, Sachsen-Anhalt, geboren am Neujahrstag 1951; aufgewachsen ist sie später im Westen. Der Satz, mit dem sie eine kurze Biografie für ein Gesprächsbuch eingeleitet hat, lässt ahnen: Auch ein Lebenslauf kann eine Provokation sein. Wer einen Eindruck vom Ausmaß dieser Provokation bekommen will, muss nur ihren Wikipedia-Eintrag öffnen. So kurz der ist, so lang seine Versionsgeschichte, weil immer wieder einer von gestern eine nachtragende Anmerkung anzubringen versuchte. Dabei wusste jeder, der es wissen wollte: Jawohl, eine Linke, die alle Irrtümer bis zur Neige ausgelebt hat, vom maoistischen Splitter bis zur DKP. Ein halbes Jahr vor dem Fall der Mauer tritt sie endgültig aus dem DDR-treuen Häufchen aus.

Der Abschied von falschen Göttern kann in Trotz münden oder in Zynismus, in bittere Nostalgie oder verbiestertes Renegatentum. Tissy hat ihre eigenen Schlüsse gezogen, bescheidener und anspruchsvoller zugleich. In ihrem Arbeitszimmer hängt immer noch ein Foto vom jüngeren Willy Brandt, Fluppe im Mundwinkel, eine Mandoline im Arm. Träumen bleibt möglich, sagt das Bild. Daneben auf dem Schreibtisch liegt die ganz kleine Taschenausgabe des Grundgesetzes. Die Würde des Menschen ist unantastbar, sagt die Verfassung. Rechts davon hängt eine Aufnahme vom großen Saal der Bundespressekonferenz. Die Würde des politischen Journalismus sollte es auch sein, sagt das Foto.

Irgendwo dazwischen lag ihre Lehre für sich selbst. „Nicht alles, was uns geglückt ist, ist unser Verdienst, und nicht alles, was gescheitert ist, ist unsere Schuld.“ Der Satz ist auf die Kämpfe von ’68 gemünzt, die Befreiung der Frauen, das Ende der bundesdeutschen Selbstgerechtigkeit und der schwarzen Pädagogik – hatten wir gesagt, dass sie Lehrerin gelernt hat, Pädagogik und Geschichte für Volks- und Realschulen? Aber der Satz umreißt auch ein Programm für ihr zweites Leben. Die Überschrift dafür hat sie im Titel ihres Gesprächsbuchs mit Franz Müntefering versteckt: „Macht Politik!“

Als wir uns in Bonn kennenlernten, lag vom neuen Leben einiges hinter ihr: die „taz“, der „Stern“, die „Wochenpost“. Die frischgebackene Parlamentskorrespondentin des Tagesspiegels fiel neben dem künftigen Kollegen auf der Pressetribüne des Bundestags in den Sitz und flüsterte mit Verschwörermiene: „Wir zeigen es denen, was?!“ Ihre Augen blitzten unternehmungslustig. „Denen“, das war der Rest der Zeitungsrepublik und die Berliner Konkurrenz im Besonderen. Na ja, und manchmal haben wir es denen ja dann auch gezeigt.

Geblitzt hat es immer, wo Tissy war, bisweilen gefunkt. Diskussion, Debatte, über das Erhabene wie über das kleine Menschliche – man kann, man muss über alles reden. Gleichgültigkeit galt nicht. Sie war ein ungeheuer anregender Geist. Und sie konnte sich wunderbar aufregen. Über die SPD, die sie furchtbar finden konnte in ihrer Spießigkeit und der doch immer ihre kritische Solidarität galt – übrigens nicht trotz, sondern gerade wegen der unersättlichen Debattierfreude dieser Truppe. Ärgern konnte sie sich über die Kanzlerin, die sie als „homo politicus“ achtete, der sie aber das Wörtchen „alternativlos“ nachhaltig übel nahm. Dass es immer eine Alternative gebe, weil sonst Politik aufhören müsste, Politik zu sein, nämlich der Streit um die bessere Lösung, darauf hat sie bestanden. Auf beidem, der Möglichkeit der besseren Lösung, vor allem aber auf dem Streit. Oder, sie zu zitieren: auf dem „urdemokratischen Prinzip der kritischen Kontroverse“. Sie konnte so einen Satz druckreif aus dem Stegreif sagen.

Und ärgern, sehr ärgern konnte sie sich über alles andere, was sie un-, ja antipolitisch fand. Über einen Journalismus zum Beispiel, der sich selbst nicht ernst nimmt, wenn er die Jagd nach zweitrangigen Zitaten zweitrangiger Politiker zum Qualitätsmerkmal erhebt. Und über die Politikverächter, die Besserwisser, die die kleine Kunst des Kompromisses schlecht machen wollen, weil sie im kleinen Kompromiss nicht das Wesen der Demokratie erkennen wollen und nicht den Fortschritt, den er – oft ungewollt geschichtslistig – in Gang setzt. Dass Politik für Menschen gemacht wird, auch darauf hat sie immer bestanden; und dass im Kleinen das Große aufscheinen kann. Tissy sah im Konkreten oft rascher und genauer als andere das Allgemeine.

Übrigens wäre es aber ganz falsch, sich Tissy als ständig Verärgerte vorzustellen. Sie konnte sich wunderbar amüsieren. Als der Oberparteichrist ein uneheliches Kind beichten musste, hat sie gekichert. Und noch bei der Nachricht, dass Joachim Gauck der nächste Präsident wird, hat sie am Telefon gejuchzt vor Spaß und Freude – Freude über den Mann, den sie an dem Platz immer schon richtig fand, und Spaß am Gestolpere der Schwarzen und der Gelben (und ein bisschen auch der Roten) auf diesen Kandidaten zu.

Da konnte sie schon nicht mehr selbst dabei sein. Mit dem Ende von Christian Wulff fiel ihr letztes öffentliches Auftreten zusammen. Sie hat da abends in der Talkshow bei Beckmann übrigens um Gerechtigkeit für den stürzenden Niedersachsen gebeten. Was Wulff über die Integration gesagt hatte, fand sie, sollte Bestand haben über alle Fehler hinweg. Das lag ihr am Herzen: das Zusammenleben der Menschen, die Chancengleichheit, die Kinder, vor allem die. „Kinder sind die Sehnsucht nach dem Besseren, das möglich ist“, hat sie zuletzt noch geschrieben. „Wo der Ehrgeiz der Gesellschaft schwach wird, wenn sie nicht mehr alle Kinder als ,ihre’ Kinder wahrnimmt, verliert sie ihre Zukunft.“ Und so ist es kein Zufall, dass ihr vielleicht größter politischer Erfolg indirekt den Kindern galt. Dass Ursula von der Leyen in der großen Koalition das Elterngeld durchgesetzt hat, hat etwas mit der Korrespondentin Bruns zu tun. Die hat es der Ministerin – na, sollen wir sagen: eingeredet?

Dass so etwas möglich wurde, sagt viel über ihre Sonderstellung in der Berliner Republik aus. Tissy fand die FDP komisch, die Linkspartei oft obskur, hielt zu den Grünen lebensgeschichtliche Distanz und rätselte über das Wesen von CDU und CSU; aber reden konnte sie mit allen, und respektiert hat sie jeder. Dass es da jemand ernst meinte mit der Demokratie, dass da jemand über alle professionelle Distanz hinweg Neugier und Respekt für die Andersdenkenden hatte, das haben sie alle gespürt. Und die es nicht wussten, konnten es sehen, wenn sie am Sonntagmittag das Fernsehgerät anschalteten und im „Presseclub“ der Frau zuhörten, die in Köln quasi Stammplatzrechte hatte.

Denn öffentlich und öffentlich wirksam war sie wie wenige. Die erste Frau an der Spitze der Bundespressekonferenz war um die Jahrtausendwende noch eine Meldung wert. Frontfrau der „Gelben Karte“ ist sie gewesen, einer der altehrwürdigen Hintergrundkreise. Auf den Podien der Republik ist sie präsent gewesen und in den Salons der Hauptstadt; schließlich als Buchautorin. Sie hat immer ihre Meinungen vertreten, ohne Ansehen des Gegenübers. Wenn sie über etwas nachgedacht und das für richtig befunden hatte, konnte sie stur sein bis zum Undiplomatischen und scharfzüngig bis zum Verletzenden. Sie hat Rededuelle nämlich gern gewonnen; eine Kämpferin, wie es auch nur wenige gibt in unserem Beruf. Aber zu ihrer Geschichte gehört eben auch der Moment, als sie die Leitung des Parlamentsbüros abgeben musste und bei allen Tränen flossen.

Zwei Jahre hat sie gegen die Krankheit gekämpft, ohne Illusionen, doch bis fast zuletzt die Hoffnung hochhaltend: auf ein wenig Zeit mit ihrem Mann und ihrem Sohn, auf ein bisschen Kraft vielleicht für ein paar letzte Texte. Manchmal hat unsereinen auch in dieser Zeit jemand angesprochen: Sagen Sie, Tagesspiegel – ist das nicht da, wo Tissy Bruns ist? Ja, werden wir ab jetzt sagen müssen, das ist da, wo sie war. Oder sagen wir besser: Wo etwas von dem Geist lebendig bleiben soll, für den sie gestritten hat.

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