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Geachtet daheim und in aller Welt. Der ehemalige sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow (rechts) und Hans-Dietrich Genscher auf dem Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor in Berlin. Das Bild entstand im September 2009.

© Rainer Jensen/dpa

Zum Tode des FDP-Politikers: Hans-Dietrich Genscher und seine spezielle Beziehung zu Berlin

Hans-Dietrich Genscher war gefragt – auch nach seiner aktiven Zeit. Der Politikpensionär wurde mit Preisen überhäuft und engagierte sich vielfältig. Auch und besonders in Berlin. Der Stadt, zu der er eine ganz spezielle Beziehung entwickelte.

"Wenn der Akteur Genscher einmal die Augen schließt“, sagte der Akteur Genscher kürzlich in einem seiner letzten Interviews mit der „Zeit“, „dann wird so viel da sein, da kann unendlich viel geschrieben werden.“ Das las sich völlig uneitel, so sind eben die Fakten, nicht wahr? Aber kann auch über Genscher und Berlin unendlich viel geschrieben werden? Über lange Jahre war Berlin für den gebürtigen Hallenser immer nur eine Durchgangsstation.

1945 meldete er sich freiwillig zur Wehrmacht, um, wie er später sagte, einer Zwangsrekrutierung durch die Waffen-SS zu entgehen. So geriet er in die „Armee Wenck“, die in der Endschlacht um Berlin eingesetzt wurde und zahllose junge Soldaten verheizte. Genscher überlebte und geriet erst in amerikanische, dann in britische Gefangenschaft. Nach der Entlassung im Juli 1945 kehrte er in seine Heimatstadt zurück, absolvierte dort und in Leipzig trotz schwerer Tuberkulose ein Jura- und Volkswirtschaftsstudium und arbeitete bis 1952 als Referendar am Amtsgericht.

Berlin war dann erneut nur eine Wegmarke an seinem Lebensweg, als er die Stadt im Sommer 1952 nutzte, um sich aus der DDR abzusetzen – sein Weg führte über das Auffanglager Marienfelde nach Bremen, wo er als Referendar weiterarbeitete und nach Hamburg, wo er das zweite Staatsexamen ablegte. Dann nahm seine parteipolitische Karriere langsam Fahrt auf: 1956 wurde er wissenschaftlicher Assistent der FDP-Bundestagsfraktion und Teil des Bonner Politikgetriebes, in dem Berlin immer präsent, aber doch auch weit entfernt war. Als Mitglied zog er in den Bundestag 1965 ein, für einen Wahlkreis im Wuppertaler Westen.

Seinen Bonner Wohnsitz behielt er bis zu seinem Tod bei

Zu einer Art Arbeits- und Lebensmittelpunkt wurde Berlin für ihn erst im Zuge der Wiedervereinigung, als hier 1990 das zweite Außenministertreffen der Zwei-plus-vier-Gespräche stattfand. Schon dabei muss ihm klar gewesen sein, dass die historische Logik zwingend für Berlin als Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands sprach; er setzte sich maßgeblich für den, wie er selbst sagte, „historischen Beschluss“ des Bundestags 1991 ein. Im Mai 1992 schied er auf eigenen Wunsch aus der Bundesregierung aus, nach 23 Jahren als dann dienstältester Außenminister Europas.

Seinen Bonner Wohnsitz behielt er bis zu seinem Tod bei, startete aber in Berlin eine zweite Karriere als gefragter Politpensionär. Honorarprofessor am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität, Aufsichtsratsvorsitzender der Kommunikationsberatung WMP Eurocom, Rechtsanwalt im Berliner Büro der Kanzlei Büsing, Müffelmann & Theye, jener Bremer Sozietät, in der er bereits bis zu seiner Ernennung zum Innenminister 1969 tätig gewesen war; Mitglied im Kuratorium der Initiative „A Soul for Europe“ der Stiftung Zukunft Berlin – und nebenher Chef seiner eigenen Beratungsfirma.

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Im Berliner Siedler-Verlag erschienen 1995 seine politischen Erinnerungen, er war als Vermittler in Tarifkonflikten tätig, saß im Präsidium der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen, war Präsident der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und vermittelte 2013 noch im hohen Alter die Freilassung des russischen Regimekritikers Michail Chodorkowski.

Aus einer kaum noch zu überblickenden Fülle von Auszeichnungen ragt aus Berliner Sicht natürlich die Ehrenbürgerschaft der Stadt (1993) hervor, hier nahm er 2008 auch den Rathenau-Preis des Walther-Rathenau-Instituts entgegen und 2009 – ein gern unternommener Ausflug ins Unterhaltungsfach – die „Goldene Henne“ als Ehrenpreis für sein Lebenswerk. Die Viadrina in Frankfurt/Oder verlieh ihm 2013 den Viadrina- Preis für seine Verdienste um die deutsch-polnische Verständigung, 2015 nahm er von der American Academy den „Henry A. Kissinger Prize“ entgegen, der ihn in eine Reihe mit berühmten Vorgängern wie Richard von Weizsäcker, Helmut Schmidt, George Bush und Helmut Kohl rückte.

„Ich bin 88 Jahre alt, das ist schon eine Leistung an sich“

Hier erzählte Frank-Walter Steinmeier als Laudator die Anekdote, wie er 2012 beim Einrichten seines Berliner Außenministerbüros nach dem W-Lan-Passwort fragte – und verdutzt feststellte, dass es nach so langer Zeit noch aus den Anfangsbuchstaben der Worte des berühmten Satzes bestand: „Liebe Landsleute, wir sind zu ihnen gekommen...“ Genschers letzter Preis, der europäische Kulturpreis 2015, wurde ihm allerdings in der Dresdener Frauenkirche übergeben, am 2. Oktober vergangenen Jahres.

In Berlin trat er zum letzten Mal öffentlich im „Berliner Ensemble“ auf, zum 25. Jubiläum des Zwei-plus-Vier-Abkommens im September 2015. Er wurde im Rollstuhl auf die Bühne geschoben, stellte sein Buch „Meine Sicht der Dinge“ vor, folgte der Veranstaltung rege und mit dem für ihn typischen Witz: „Ich bin 88 Jahre alt, das ist schon eine Leistung an sich“, sagte er zu seinem Gesundheitszustand, „einige Ärzte sind daran beteiligt, einige konnten sich dann ein besseres Auto kaufen.“

Im Berliner Politikbetrieb der Nachwendezeit war Genscher bis zu seinem Tode ein hochgeschätzter Gast und Ratgeber. Michael Müller, der Regierende Bürgermeister, würdigte ihn in seiner Erklärung zum Tode des Berliner Ehrenbürgers als „eine der prägenden politischen Persönlichkeiten der Bundesrepublik“, ohne sein großes politisches Geschick und seine tiefe Freiheitsliebe würde Europa heute ein anderes Gesicht haben. Und: „Berlin hat Hans-Dietrich Genscher immer besonders am Herzen gelegen.“

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