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Zwei Jahre nach dem Selbstmord: Leid ohne Ende für die überlebenden NSU-Opfer

Auch zwei Jahre nach Enttarnung des NSU leiden die Angehörigen der Opfer unter den Folgen des Terrors. Nirgendwo treten die Qualen der Familien und das Versagen der Behörden so deutlich zutage wie im Prozess.

Von Frank Jansen

Pinar Kilic redet laut. Sie blickt zur Anklagebank, wo Beate Zschäpe sitzt, dann ruft sie in die Stille hinein: „Muss ich vor dieser Frau sprechen?“. Die Witwe ist als Zeugin geladen, eine unscheinbar wirkende Frau, 51 Jahre alt, Verkäuferin. Aber das Reden fällt ihr schwer, in diesem bunkerartigen Gerichtssaal A 101, in dem sich alle Augen auf sie richten. Schon ihren Wohnort will sie nicht verraten. Der Vorsitzende Richter des 6. Strafsenats am Oberlandesgericht, Manfred Götzl, reagiert gereizt, „ich erwarte höfliche Antworten“.

Der NSU-Prozess änderte sich am 11. Juli

Es ist der 22. Tag im NSU-Prozess, es geht um den Mord an Habil Kilic. Was die Ankläger und Verteidiger morgens noch nicht ahnen: Dieser 11. Juli wird den Prozess verändern. Denn nie zuvor, auch nicht in den Untersuchungsausschüssen des Bundestags und dreier Landtage, wurde so schmerzhaft deutlich, was die Terrorzelle angerichtet hat. Was bei den Hinterbliebenen der zehn Ermordeten zusammengebrochen ist und auch den Menschen, die von den drei Sprengstoffanschlägen und 15 Raubüberfällen betroffen waren.

Vor zwei Jahren begingen Uwe Mundlos und Uwe Bönhardt Suizid

Zwei Jahre ist es her, dass Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt am 4. November 2011 Selbstmord begingen, die Terrorzelle NSU bekannt wurde und das Land erschütterte. Der Prozess zur Aufarbeitung ihrer Morde erweist sich als eine nicht enden wollende Tour durch die Abgründe rechter Gewalt. Mit einer Hauptangeklagten, die schweigt; mit Nebenklägern, die nicht wissen wohin mit ihrem Schmerz; mit einem Vorsitzenden, der nur langsam bemerkt, dass Förmlichkeit angesichts dieses Grauens nicht immer weiterhilft.

Richter Götzl mag es sachlich, fragt selbst akribisch und präzise. Das passt zur technischen Sprache, in der die Bundesanwaltschaft ihre Vorwürfe formuliert hat. Zum Mord an Habil Kilic heißt es auf Seite 14 der Anklage, die NSU-Mitglieder Mundlos und Böhnhardt hätten zwischen 10.35 und 10.50 Uhr den Frischmarkt seiner Familie in der Bad-Schachener-Straße 14 in München betreten. Sie „schossen dem hinter dem Kassentresen stehenden 38-jährigen türkischen Gemüsehändler Habil Kilic mit der Pistole Ceska 83 seitlich in den Kopf“, er habe einen „Gesichtsdurchschuss“ erlitten. Ein zweiter Kopfschuss habe ihn von hinten getroffen. Kilic sei noch am Tatort gestorben.

Richter Götzl fragt immer weiter

Dass Pinar Kilic den Tod ihres Mannes bis heute nicht verkraftet hat, dass der Auftritt vor Gericht sie überfordert, scheint dem Richter nicht bewusst zu sein. Erst als Götzl merkt, dass die Witwe in ihrer Verzweiflung bald nicht mehr ansprechbar sein wird, darf sich ihr Anwalt neben sie setzen. Er legt eine Hand auf ihre Schulter. Götzl fragt die Frau, ob sie Angst hatte nach dem Mord an ihrem Mann.

„Natürlich habe ich Angst gehabt, wenn jemand ermordet wird.“

Ob sie eine Erklärung gesucht habe, wie es kommen konnte, dass ihr Mann ermordet wurde?

Das unglaubliche Grauen hat den Richter verändert

Pinar Kilic beugt sich vor, ihre Stimme wird noch lauter, „sie müssen so stark sein, aber irgendwann bricht das zusammen“, ruft sie und spricht damit aus, was wohl alle Angehörigen fühlen.

Heute, ein halbes Jahr nach Prozessauftakt, nach 50 Verhandlungstagen und der Vernehmung von mehr als 120 Zeugen, zeigt sich, wer im Prozesssaal das Leid der Zusammengebrochenen begreift. Die Qualen der Familien nach den Morden, die dann auch noch oft zu leiden hatten unter den Ermittlungen der Polizei, die bei den neun erschossenen Migranten viel zu lange dem Verdacht nachging, die Mordopfer und ihr Umfeld könnten wegen dunkler Machenschaften ihren Tod selbst verschuldet haben.

Bei Richter Götzl jedenfalls ist nach dem Auftritt der Witwe Pinar ein Lernprozess zu erkennen. Er herrscht keinen Angehörigen mehr an, gefälligst höflich zu antworten. Auch nicht, als am 41. Verhandlungstag, Anfang Oktober, der Vater des 2006 in Kassel ermordeten Halit Yozgat seinen Schmerz herausschreit. Weinend ruft Ismail Yozgat den fünf Angeklagten zu, „mit welchem Recht haben Sie das getan, warum haben Sie mein Lämmchen getötet?“ Der 58 Jahre alte Vater fixiert vor allem Beate Zschäpe. Richter Götzl lässt es geschehen.

In den Pausen des NSU-Prozesses löst sie Kreuzworträtsel

Die einzige Überlebende des Trios sagt nicht aus. Diese Frau ist, in jeder Hinsicht, unfassbar. Bleich sitzt sie da, verschränkt oft die Arme, sie blickt an die Decke, sie klappt ihren Laptop auf und wieder zu, redet immer mal wieder halblaut auf ihre Anwälte ein und greift in die Pastillendöschen, die sie mit den Verteidigern teilt. In den Pausen löst sie manchmal Kreuzworträtsel.

Das Grauen verändert auch den Richter

Das unglaubliche Grauen, das durch den Prozess zutage kommt, scheint Götzl verändert zu haben. Diesen streng preußisch anmutenden Juristen, 59 Jahre alt, mit Stirnglatze, randloser Brille, der nur lacht, kurz und abgehackt, wenn er mal wieder einen Anwalt abgekanzelt hat. Zum Auftakt demonstrierte Götzl noch rabiat seine Sitzungsgewalt, jetzt ist seine Dominanz vielschichtig geworden. Er ist noch stur, teilt ruppig aus, hat aber auch sensible Momente, die ihm vor einem halben Jahr kaum jemand zugetraut hätte. Immer wieder fragt er Hinterbliebene und Zeugen, welche Folgen die Tat für sie hatte. Die Antworten sind erschütternd.

Bei Wolfgang F. reicht es nicht einmal zu einem kompletten Satz. „Die totale Zerstörung, nicht nur für die Angehörigen“, sagt er. Der 56-Jährige betrieb mit dem Griechen Theodoros Boulgarides in München einen Schlüsseldienst. Am 15. Juni 2005 stürmte Mundlos oder Böhnhardt in den Laden und schoss Boulgarides dreimal mit der Ceska 83 in den Kopf. Als Wolfgang F. hereinkam, lag sein Geschäftspartner tot in einer Blutlache. Den Schlüsseldienst hatten die beiden zwei Wochen zuvor eröffnet.

Die Polizei jagte falschen Spuren hinterher

Für Wolfgang F. brach beruflich, aber auch privat die Welt zusammen. „Ich habe mich von meiner langjährigen Freundin getrennt“, sagt er. Zerstörerische Folgen habe auch die Ermittlung der Polizei gehabt. Die Beamten hätten ihn „monatelang immer wieder vorgeladen, es ging immer ums selbe“: Ob Boulgarides spiel- oder sexsüchtig gewesen sei?

„Die wollten uns in den Dreck ziehen“, sagt Wolfgang F., „das haben sie auch geschafft, ich habe dadurch Kunden verloren.“ Den Schlüsseldienst gab er auf. Und er sagt, Mutter und Bruder von Boulgarides seien nach Griechenland zurückgegangen, „die Mutter hatte immer Angst“. Götzl befragt Wolfgang F. mit stoischer Ruhe, behutsam, obwohl der Zeuge unkonzentriert wirkt, sein Alter korrigiert und schon mit dem schleppenden Ton demonstriert, dass er den Glauben an die Strafverfolgungsbehörden verloren hat. Bohrender hingegen nimmt sich Götzl jetzt Polizeizeugen vor. Erst recht, wenn er den Eindruck hat, sie wollten verschweigen, wie hart sie den Angehörigen zugesetzt haben. Ende September beispielsweise, am 39. Verhandlungstag, erzählt ein pensionierter Kriminalbeamter aus Hessen, im Fall des 2006 in Kassel erschossenen Halit Yozgat seien seine Ermittler mit der Familie „sehr kooperativ“ und „sehr vertrauensvoll“ umgegangen. Karl-Heinz G. redet lange, er klingt ein wenig nervös. Götzl hakt nach, kurz und trocken, ob es gegen die Familie Yozgat einen „VE-Einsatz“ gab, also eine Aktion von verdeckten Ermittlern?

Gegen die Opfer des NSU wurde ermittelt

Der Zeuge zuckt – dann antwortet er matt, „ja, aber auch die hatten keine Erkenntnisse“.

Götzl lässt nicht locker, „und bei der Telefonüberwachung der Familie?“

Der frühere Kripomann senkt den Kopf. Auch bei der „TKÜ“, der Telekommunikationskontrolle, sei nichts herausgekommen. Obwohl sie, wie der Zeuge zugibt, monatelang dauerte.

Das alles hätte Karl-Heinz G. von sich aus wohl nicht erzählt. Sein Versuch, die Ermittlungen als „kooperativ“ darzustellen, ist endgültig gescheitert, als ihn ein Anwalt der Familie zum Vermerk eines türkischstämmigen Polizisten befragt. Vater Yozgat hatte sich in seiner Verzweiflung an den Beamten gewandt und ihn beschworen, die Ermittlungen liefen in die falsche Richtung. Die Polizei solle aufhören, die Familie zu verdächtigen. Der Beamte schrieb im Vermerk, „ich fragte ihn, ob er was verheimlicht“. Da habe der Vater angefangen zu weinen. „Das muss ein Spinner sein, der wahllos Ausländer umbringt“, sagte Ismail Yozgat. Götzl fixiert Karl-Heinz G. durch seine randlose Brille. Der reagiert nur noch halblaut. Er habe den Vermerk, sagt er, „so konkret nicht in Erinnerung“.

Der Polizist druckst herum

Der Mangel an Gespür, die sture Ignoranz – der Prozess fördert sie zutage. So auch am 46. Tag, es ist Mitte Oktober, als Kriminalhauptkommissar Matthias B. aussagt. Im Jahr 2005 war den Experten längst klar, dass der Mord an Boulgarides Teil einer bundesweiten Serie von damals sieben Attentaten auf Migranten war. Immer verübt mit derselben Waffe, einer Ceska 83.

Matthias B. hat im Münchener Polizeipräsidium bis heute eine zentrale Rolle beim Fall Boulgarides. Es sei eine „Soko Theo“ gebildet worden, sagt er und zählt stolz auf: bis zu 39 Beamte hätten mitgemacht, allein in den ersten sechs Wochen seien 120 Zeugen vernommen worden. Die Anwältin Angelika Lex, sie vertritt die Witwe Boulgarides, hakt nach: Waren auch Beamte vom Staatsschutz, also Experten für extremistische Gewalt, dabei? Nein. Und aus dem Bereich Organisierte Kriminalität? „Ja“, sagt Matthias B., „es waren ein oder zwei Kollegen zugegen.“

Der Beamte hebt kurz den Kopf, als wittere er Gefahr. Zögerlich gibt er zu, dass auf die mit Boulgarides in Scheidung lebende Ehefrau verdeckte Ermittler angesetzt waren.

Und warum hat Matthias B. die Freundin von Boulgarides gefragt, ob sie die Pille nehme? Die Frage ist dem Zeugen offenbar unangenehm, er zögert, dann sagt er: Die Ehe von Boulgarides sei noch nicht geschieden gewesen und er habe herausfinden wollen, ob die Lebensgefährtin bereit gewesen sei, schwanger zu werden. Der Beamte deutet Eifersucht der Noch-Ehefrau als denkbares Mordmotiv an. Es klingt, als habe er tatsächlich angenommen, eine Gang schießwütiger Ehefrauen habe die Waffe untereinander weitergereicht.

Selten haben die Nebenklage-Anwälte so viel Zeit

Richter Götzl lässt, gegen seine Gewohnheit, die Nebenklage-Anwältin lange fragen. Denn es geht um das Leiden der Angehörigen. Was Götzl aber überhaupt nicht mag, sind Ausführungen, die nach Verschwörungstheorien klingen. Rüde unterbricht er einen Nebenklage-Anwalt, der seine Fragen nutzt, um eine Wohngemeinschaft von Rechtsextremisten in der Nähe des Tatorts ins Spiel zu bringen und angeblich Verdächtige mit Verbindungen zum braunen Milieu, die sich nach dem Mord auffällig verhalten haben sollen. „Legen Sie mir bitte dar, welche Relevanz Ihre Fragen haben“, faucht Götzl. Der Anwalt wehrt sich, das bringt den Richter erst recht in Rage. Zwei kurze Fragen noch, dann gibt der Anwalt auf.

Mit solchen Attacken hält Götzl das Heer der Nebenklage-Anwälte in Schach. Selbst kampferprobte Anwälte, die sonst die Konfrontation nicht scheuen, melden sich eher sparsam. Und sagen dann „ich habe nur kurz eine Verständnisfrage“. Ein Anwalt, der die Anschläge von Mölln und Solingen thematisieren will, wird von Götzl derart zusammengestaucht, dass er fast nur noch schweigt. So kommt der Mammutprozess voran.

Ein Ende der Qualen, die dieser Prozess allen Beteiligten bereitet, ist noch nicht absehbar. Die Beweisaufnahme dauert an. Der zehnte Mord, die Schüsse auf die Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn, kam noch gar nicht an die Reihe. Zschäpes Mutter ist als Zeugin geladen ebenso wie der dubiose Ex-V-Mann Tino Brandt, der als Spitzel des Thüringer Verfassungsschutzes mehr als 200 000 D-Mark bekam und eine fanatische Neonazi-Kameradschaft führte, den „Thüringer Heimatschutz“. Dem auch Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt angehörten. Die drei wurden von Brandt, so hat ein BKA-Mann ausgesagt, in ihrem Willen zum bewaffneten Kampf bestärkt. Mit Spannung wird auch der Auftritt der Eltern von Uwe Böhnhardt erwartet.

Die Tatortfotos kann nicht jeder ertragen

Auf der Anklagebank hat sich seit dem Auftakt wenig getan. Der Ex-NPD-Funktionär Ralf Wohlleben sagt nichts zu den Vorwürfen. Er starrt meist mit trotziger Miene ins Leere. Auch André E., der stets mit schwarzer Lederweste erscheint und manchmal einer Halskette mit einem Hammer des Donnergottes Thor, schweigt. Er tippt auf dem Laptop herum, liest Motorrad-Zeitschriften. Holger G., er hat die Unterstützung des NSU zugegeben, hört aufmerksam zu, schreibt emsig in ein Ringbuch. Fragen zu seinem abgelesenen Geständnis beantwortet er nicht. Nur der schmächtige Carsten S., der zugegeben hat, die Ceska 83 besorgt zu haben, wirkt bedrückt, wenn Lichtbilder mit den zerschossenen Gesichtern der Opfer an die Wände projiziert werden.

Dass die Tatortfotos für die Hinterbliebenen unerträglich sind, auch das hat Götzl erst im Laufe der Verhandlung erkannt. Im September, es ist der 39. Verhandlungstag, warnt er die im Saal sitzenden Angehörigen des in Hamburg getöteten Süleyman Tasköprü, es kämen jetzt „Bilder von Blutantragungen, wenn Sie das nicht sehen wollen …“

Die Familie steht auf und geht raus. Götzl wartet stumm, bis sich die Tür geschlossen hat.

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