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Aufgebrachte Männer demonstrieren in Libyens Hauptstadt Tripolis gegen die Macht der Milizen. Auf ihren Plakaten steht unter anderem "Ja zum Rechtsstaat", oder "Ja zum Nationalen Dialog".

© dpa

Zwei Jahre nach Gaddafis Sturz: "In Libyen herrscht Anarchie"

Nach schweren Zusammenstößen zwischen Milizen und Demonstranten hat die Regierung Armeeeinheiten in der Hauptstadt Tripolis stationiert. Seit längerem gleitet das nordafrikanische Land immer tiefer ins Chaos. Auch für Deutschland und die EU gäbe es einiges zu tun, sagt Hanan Salah, Libyen-Expertin von Human Rights Watch.

Vor fast genau zwei Jahren endete der Aufstand in Libyen mit dem Tod von Muamar al Gaddafi. Zunächst sah es so aus, als würde sich das Land gut entwickeln. Warum hat sich das geändert?

Es stimmt, die Wahlen im Sommer 2012 waren der Höhepunkt einer positiven Entwicklung. Seit Ende vergangenen Jahres geht es bergab. Ich bin im Mai 2011 nach Tripolis gekommen und beobachte die Situation schon länger. Ich muss sagen: Inzwischen herrscht in Libyen Anarchie.

Was läuft schief?

Die libysche Regierung ist komplett machtlos. Außerhalb von Tripolis hat sie praktisch keinen Einfluss mehr. Das Problem ist: Nach dem Ende des Konfliktes gab es ein Machtvakuum, das die bewaffnete Gruppen gefüllt haben. Bis heute ist es nicht gelungen, die Milizen zu entwaffnen. Im Gegenteil, es gibt in jeder Region eine Vielzahl bewaffneter Gruppen, die alle versuchen, die Macht an sich zu ziehen.

Wie konnte das passieren?

Eine solche Fragmentierung hatte sich schon zu Beginn des Konfliktes abgezeichnet. Die verschiedenen Gruppen, die gemeinsam gegen Gaddafi kämpften, hatten als gemeinsames Ziel ja nur den Sturz des Diktators. Über die Zeit danach wurde nie diskutiert. Und nach Gaddafis Tod wurde dann der Aufbau von Polizei und Armee komplett vernachlässigt. Anstatt die Anti-Gaddafi-Kämpfer direkt zu entwaffnen und dann beim Aufbau der künftigen Polizei und Armee mit einzubinden, wurden stattdessen Parallelstrukturen geschaffen. Zum Beispiel bekamen so genannte Sicherheitskomitees das Polizeimandat in Tripolis übertragen, ohne dass die eigentliche Polizei reformiert und strukturell gestärkt worden wäre.

Hanan Salah, Libyen-Expertin von Human Rights Watch.
Hanan Salah, Libyen-Expertin von Human Rights Watch.

© Kai-Uwe Heinrich

Und jetzt?

Man hat die Polizei nicht aufgebaut, sondern Parallelstrukturen geschaffen, die sich mittlerweile zu Milizen entwickelt haben. Deren Loyalität ist äußerst unklar, aber sie werden immer noch von der Regierung bezahlt, können beispielsweise Leute festnehmen und waren eine Zeit lang sogar für die größten Gefängnisse zuständig. Das sind Kämpfer, die weder eine Polizeiakademie besucht haben noch anderweitig ausgebildet worden sind. Es wurde auch nicht überprüft, ob sie schwere Kriegsverbrechen begangen haben. Sie können sich vorstellen, was das heißt, in solchen Positionen Männer zu haben, die möglicherweise gefoltert oder gemordet haben. Und genau die gleichen Probleme gibt es beim Militär.

Gibt es noch andere Gründe für die derzeitige Instabilität im Land?

Der Hauptgrund sind schon die fehlenden staatlichen Strukturen und die vielen verschiedenen Milizen. Darunter sind auch einige mit islamistischen Tendenzen, die zum Teil wahrscheinlich internationalen Terrorgruppen nahe stehen. Aufgrund der chaotischen Lage agieren diese Gruppen inzwischen ziemlich öffentlich.

Deutschland? Hatte eigentlich viel versprochen.

Sie sagen, die EU und Deutschlands könnten mehr tun, vor allem beim Aufbau des Justiz- und Sicherheitssektors.

Deutschland hatte zugesagt, speziell die Reform des Justizsektors zu unterstützen. Das ist nach wie vor dringend notwendig. Zwei Jahre nach Ende des Konflikts hat noch kein einziger Prozess gegen die inhaftierten Kämpfer Gaddafis begonnen. Das sind etwa 8000 Männer, und bei den wenigsten ist klar, ob sie überhaupt angeklagt werden. Nicht jedes Mitglied von Gaddafis Streitkräften hat automatisch Menschenrechtsverletzungen begangen. Die meisten von ihnen sind in den vergangenen Jahren kein einziges Mal vor einen Richter getreten oder haben überhaupt einen Anwalt gesehen.

Wessen Fehler ist das?

Die Libyer haben die Justiz von Beginn an vernachlässigt, aber die internationale Staatengemeinschaft hätte ebenfalls viel früher mit der Unterstützung des Justizsektors beginnen müssen. Zum Beispiel ist die Ausbildung von Richtern und Staatsanwälten völlig vernachlässigt worden. Es macht ein bisschen den Eindruck, als habe man Libyen nach dem 20.Oktober 2011 (Gaddafis Todestag, die Red.) einfach nicht mehr so wichtig genommen.

Und jetzt?

Die Sicherheitslage ist hoch dramatisch. Wir haben einige Fälle dokumentiert von Richtern, die höchstwahrscheinlich aufgrund politischer Motive ermordet wurden, wir haben Fälle dokumentiert von Staatsanwälten, die unter hohen Druck gesetzt worden sind, Anwälte, die attackiert und bedroht wurden. Es kann kaum ein faires Verfahren geben, wenn Menschen, die an einem Prozess beteiligt sind, unter Druck gesetzt, bedroht, physisch angegriffen werden. Wir haben hier einige Fälle beobachtet, bei denen Zeugen zu Falschaussagen gezwungen wurden, Anwälte und Familienmitglieder bedroht wurden. Auf deren Basis wurden dann Menschen zum Tode verurteilt.

Vor ein paar Wochen wurde das Al-Qaida-Mitlied Abu Anas Al Libi mitten in Tripolis festgenommen. Wie stark sind die Islamisten in Libyen?

Es gibt die Tendenz zur Islamisierung. Allerdings sind nicht alle Islamisten Dschihadis. Und aufgrund der relativen Machtlosigkeit der Regierung kann man davon ausgehen, dass sich Mitglieder von internationalen Terrorgruppen sich in Libyen befinden. Es gibt auch immer mehr Berichte von entsprechenden Trainingslagern. Tatsache aber ist, speziell die südlichen Grenzen Libyens sind weit offen. Und da gibt es warshcheinlich einige Bewegung dieser internationalen Gruppen, die je nach Bedarf dort rein und rausgehen.

Was geschieht mit den Flüchtlingen, die über die offenen Grenzen nach Libyen kommen, und die eigentlich über das Meer nach Europa wollen?

Es gibt inzwischen sehr, sehr viele Flüchtlinge im Land, einige tausend Menschen kommen pro Woche über die offenen Grenzen. Sie sind hoch gefährdet. Einmal, weil die rund tausend Kilometer Weg vom Süden an die Küste im Norden zum größten Teil durch offene Wüste führt. Zum anderen weil es in Libyen einen regen Menschenhandel gibt, und Flüchtlinge als Sexarbeiter oder Arbeitssklaven missbraucht werden. Besonders gefährdet sind die Flüchtlingsfrauen, die versuchen, sich allein oder in Gruppen durch die Wüste durchzuschlagen.

Viele Flüchtlinge kommen auch ins Gefängnis, hört man?

Ja, und die Bedingungen dort sind teilweise unmenschlich. Ich war dort selbst und man kann es kaum glauben. Es gibt auch keine medizinische Betreuung für kranke Häftlinge oder irgendeine Art des Rechtsbeistandes. Manche Flüchtlinge sitzen seit Jahren im Gefängnis, ohne dass sich irgendjemand um sie kümmert. Die Haftbedingungen sind allerdings für alle Gefangenen furchtbar, auch für die libyschen. Es wird systematisch gefoltert, wir haben mehrere Todesfälle aufgrund von Folter dokumentiert. Die meisten Gefängnisse werden oft noch von Milizen betrieben. Und deren Kämpfer sind absolut ungeeignet, ein Gefängnis zu leiten.

Hanan Salah ist Libyen-Expertin von Human Rights Watch. Sie lebt in Tripolis und untersucht dort besonders Menschenrechtsverletzungen.

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