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Politik: Zwischen Recht und Rückfall

Von Gerd Appenzeller

Die meisten Deutschen sind des Themas vermutlich überdrüssig. Tonlage und Diktion des Streits wirken schrill, der ganze Anspruch erscheint gestrig, sieht man es politisch: revanchistisch. Die Preußische Treuhand, eine Organisation, die sich um Vermögensrechte der Vertriebenen kümmert, fordert in Polen Restitution, wo immer möglich – das heißt Rückgabe von Immobilien, und nicht etwa nur materiellen Ersatz. Erika Steinbach, Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen, nennt den Bundeskanzler unanständig, weil er sich bei seinem Polenbesuch von den Ansprüchen der Vertriebenen distanziert hat.

Das alles klingt wie Nachhall von Vertriebenentreffen vor 50 Jahren. Aber es geschieht heute. Das Thema kam wieder, weil die Zeiten sich geändert haben. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Geschehen sind der Bombenkrieg gegen die deutsche Zivilbevölkerung und die Vertreibung von Millionen Menschen ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Das Leid von damals wird, anders als früher, leidenschaftlich diskutiert. Ja, im Land der Täter hat es auch viele Opfer gegeben.

Dennoch scheint auf den ersten Blick alles klar zu sein. Die Ansprüche der Vertriebenen oder ihrer Nachfahren wirken anachronistisch und blind gegenüber der Realität. Und Realität ist eine europäische Friedensordnung, innerhalb derer kein Mensch, der halbwegs bei Verstand ist, irgendeine Grenze infrage stellt. Ein Deutscher, der in Polen Besitzansprüche geltend macht, würde also im Falle eines juristischen Erfolges in einem anderen Land und in einer ihm sicherlich eher feindlich gesinnten Umgebung leben müssen. Mehr noch: Der Zwei-plus- vier-Vertrag vom September 1990, geschlossen zwischen den vier Alliierten und den beiden deutschen Staaten, ist der Ersatz für einen Friedensvertrag. Er legt die deutschen Grenzen fest, einschließlich der polnischen Westgrenze. Völkerrechtlich hat Deutschland damit auf alle Ansprüche gegenüber seinen Nachbarn verzichtet.

Dies ist die Rechtsposition nicht nur Gerhard Schröders, es ist auch die der Regierung Kohl gewesen. Völkerrechtlicher Verzicht aber berührt private Rechte nicht. Kein Staat kann seinen Bürgern verbieten, vermeintliche oder tatsächliche Forderungen gegen einen anderen Staat juristisch durchsetzen zu wollen. Täte er es doch, käme das einer Enteignung gleich. Für die von der Preußische Treuhand vertretenen Vertriebenen hat die EU-Osterweiterung erstmals die Chance eröffnet, ihre bisher sehr theoretischen Ansprüche auch vor Gericht zu vertreten. Dass die Vertriebenen und die Flüchtlinge über den Lastenausgleich im Lauf der Jahrzehnte insgesamt 140 Milliarden Mark Entschädigung für Vermögensverluste erhalten haben, berührt ihre Klagerechte nicht. Wenn sie vor Gericht Erfolg hätten, dann müssten sie allerdings die ausgezahlten Gelder zurückzahlen.

Wie die polnische Justiz auf solche Klagen reagieren wird, ist vorhersehbar. Sie wird sie unter Hinweis auf den Zwei-plus-vier-Vertrag als obsolet zurückweisen. Dann jedoch können die Kläger vor den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof ziehen. Wie der entscheidet, ist völlig offen. In jedem Fall wird er eine Stellungnahme der Bundesregierung einholen. Die wird sich dann bekennen müssen – hält sie die Ansprüche der Vertriebenen für begründet oder nicht? Des Kanzlers Worte in Warschau lassen keinen Zweifel, dass die Frage mit Nein beantwortet werden müsste. Den Spruch des Gerichts würde das zwar beeinflussen, aber nicht vorwegnehmen.

Die langwierigen Prozesse werden die Beziehungen zwischen Deutschland und Polen belasten. Diese Beziehungen sind zwar nicht so schlecht, wie es einige nationalistische Medien in unserem Nachbarland glauben machen wollen. Aber Polen hat unter der Brutalität der deutschen Besetzung so furchtbar gelitten, dass viele Menschen dort zu Recht daran zweifeln, ob die Deutschen die richtige Debatte führen. Auch in Deutschland fragt man sich voller Sorge, ob es der Preußischen Treuhand nur um Recht und Besitz geht, oder letztlich nicht doch um eine Revision der Geschichte.

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