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Dringend benötigt. Drei Millionen Flüchtlinge in der syrischen Provinz Idlib sind von Hilfslieferungen abhängig.

© O.Orsal/Reuters

"Zynische Geopolitik" in Syrien: Machtspiele auf Kosten der Hungernden

Millionen Menschen sind im Nordwesten des Landes auf Hilfsgüter angewiesen – doch Russland und China blockieren notwendige Lieferungen.

Ein Lastwagen nach dem anderen rollt durch das Tor am Grenzübergang Bab al Salam von der Türkei nach Syrien. Die 31 Fahrzeuge bringen medizinische Hilfsgüter für Hunderttausende Menschen in die Gegend nördlich der syrischen Großstadt Aleppo. Mark Cutts, bei der Uno für die Koordinierung der Syrien-Hilfe zuständig, schaut den Lastwagen zu. Seit sechs Jahren werde Bab al Salam von der Uno genutzt, sagt er in einem Videoclip auf Twitter.

Es sei äußerst wichtig, diese Hilfe fortzusetzen. Doch es ist wohl der letzte Lastwagen-Konvoi der Uno an diesem Grenzübergang. Nur wenige Stunden nach der Videobotschaft vom Samstag beschließt der Sicherheitsrat in New York, Bab al Salam für Hilfslieferungen zu schließen.

Nach langen Verhandlungen einigte sich das UN-Entscheidungsgremium in der Nacht zum Sonntag darauf, wie die UN-Hilfe für Rebellengebiete in Syrien in den nächsten zwölf Monaten geregelt werden soll.

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Russland und China hatten ihr Veto als ständige Mitglieder des Sicherheitsrates benutzt, um ihren Willen durchzusetzen. Deutschland und Belgien als Verfasser des Resolutionsentwurfes beugten sich schließlich dem Druck: Bab al Salam wird geschlossen, sodass die gesamte Hilfe für Nordwest-Syrien über einen einzigen Grenzübergang, Bab al Hawa, aus der Türkei abgewickelt werden muss.

Zwar sei ein Übergang nicht genug, erklärten Berlin und Brüssel nach dem Votum. Aber die Schließung aller Übergänge, die bei einer Blockade im Sicherheitsrat gedroht hätte, wäre noch schlimmer gewesen.

Nach langem Ringen hat sich der UN-Sicherheitsrat auf eine eingeschränkte Fortsetzung der humanitären Hilfe für Millionen Syrer geeinigt.
Nach langem Ringen hat sich der UN-Sicherheitsrat auf eine eingeschränkte Fortsetzung der humanitären Hilfe für Millionen Syrer geeinigt.

© --/XinHua/dpa

Schon im Januar hatte der UN-Sicherheitsrat auf Druck Russlands und Chinas die Zahl der Grenzübergänge, über die Hilfsgüter in syrische Rebellengebiete gebracht werden dürfen, von damals vier auf zwei reduziert. Jetzt bleibt nur noch Bab al Hawa übrig. Russland und China fordern, dass Hilfsgüter über die von der Regierung kontrollierten Gebiete Syriens verteilt werden sollten.

Der Westen lehnt dies ab, weil dieses Verfahren die Menschen in Gegenden wie der Rebellenprovinz Idlib zu Geiseln des syrischen Diktators Baschar al Assad machten.

Hilfsorganisationen kritisieren "zynische Geopolitik"

Till Küster, Nahost-Koordinator der deutschen Hilfsorganisation Medico International, kritisierte Moskau und Beijing: „Es ist nicht das erste Mal, dass im syrischen Krieg ganze Gebiete und Städte von Hilfe abgeschnitten werden.“ In anderen Regionen sei diese Strategie benutzt worden, um Rebellen, Oppositionelle und Zivilisten zur Aufgabe zu zwingen. „Ähnlich verhält es sich nun in Idlib, Leider in weit größerem Maßstab.“ Das sei „zynische Geopolitik“.

Ein Zusammenschluss von Hilfsorganisationen kritisierte die UN-Entscheidung ebenfalls. Viele Menschen würden ab sofort nicht mehr die Hilfe erhalten, auf die sie dringend angewiesen seien. „Menschen werden ihr Leben verlieren. Das Leid wird schlimmer“, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung von Organisationen, die in Syrien tätig sind. Der UN-Sicherheitsrat solle mehr Hilfe für den Norden Syriens ermöglichen „und aufhören, auf dem Rücken der Menschen politische Spielchen zu spielen“.

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Allein in Idlib an der Grenze zur Türkei drängen sich rund drei Millionen Flüchtlinge, die sich im letzten Rebellengebiet Syriens vor Assads Truppen in Sicherheit gebracht haben. Viele leben in Zelten, andere suchen Schutz in halb zerstörten Gebäuden. Zu Hunger und Angriffen der Regierungstruppen kommt jetzt eine weitere Gefahr: In Idlib sind die ersten Infektionen mit dem Coronavirus festgestellt worden.

In Idlib droht jetzt auch noch ein Corona-Ausbruch

Zuerst wurde vorige Woche ein Arzt aus einem Krankenhaus in der Nähe des Grenzübergangs Bab al Hawa positiv getestet, wenig später zwei Kollegen aus derselben Klinik. Nach unbestätigten Berichten steckte sich auch eine Krankenschwester an.

Sollte dies der Beginn einer Corona-Welle im Nordwesten Syriens sein, wären Gesundheit und Leben von Hunderttausenden in Gefahr. „Es gibt weitverbreitete Mangelernährung, sehr schlechte hygienische Zustände und ein vollkommen überlastetes, durch Angriffe gezielt zerstörtes Gesundheitssystem“, sagte Küster von Medico International.

Die amerikanische Syrien-Expertin Elizabeth Tsurkov schrieb auf Twitter, es gebe in Idlib nur ein einziges Corona-Testgerät und einen Arzt, der die Untersuchungen vornehme.

Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO gibt es im Nordwesten Syriens 203 Beatmungsgeräte. Idlib sei „einer der elendsten Orte der Welt“, schrieb Tsurkov. Mit der Entscheidung des Sicherheitsrates könnte es jetzt noch schlimmer werden.

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