Brandenburg: Vom alternativen Zirkuszelt zum betonierten Sorgenkind
Irene Moessinger gründete 1980 in Berlin das Tempodrom. Beim heutigen Neubau am Anhalter Bahnhof explodierten die Kosten
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Irene Moessinger gründete 1980 in Berlin das Tempodrom. Beim heutigen Neubau am Anhalter Bahnhof explodierten die Kosten Von Wilfried Mommert Berlin. Irene Moessinger hatte einmal einen Traum und will so schnell nicht aufgeben. „Ich kämpfe um mein Lebenswerk“, sagt die ehemalige Krankenschwester, die 1980 nach einer Erbschaft das Berliner Tempodrom gründete und ein Zirkuszelt zu einem Tempel der alternativen Kulturszene in der Millionenstadt machte. Es war das erste große alternative Kulturunternehmen in Deutschland, das bald überall Nachahmer fand. Nach einem Vierteljahrhundert abwechslungsreicher Varieté-, Musik- und Theatergeschichte ist der 2001 eröffnete 30-Millionen-Euro-Neubau jetzt in die Schusslinie der Berliner Finanzkrise geraten. Der zeltartige Kolossal-Neubau aus Stahl, Glas und Beton am ehemaligen Anhalter Bahnhof mit 3500 Plätzen ist nun selber zum Gegenstand einer der für Berlin so typischen Politfinanzaffären geworden. Handfeste Fehler bei den Finanzkalkulationen wurden sichtbar. Dabei hatte Rockröhre Nina Hagen zur Eröffnung des Neubaus noch mit einem „Glory, glory, Halleluja, Harekrischna“ die Schutzgötter der Artisten beschworen. Vielleicht liegt der Hauptfehler allein schon in der Vorstellung, aus einem einstigen Treffpunkt der bunten Berliner Alternativszene mit einfachem Zirkuszelt einen pompös anmutenden Mammutbau aus Beton zu machen und damit die Erfolgsgeschichte nahtlos fortschreiben zu können. Für die einen ist es ein Lernbeispiel dafür, dass alternative Kulturtreffs aus dem Ruder laufen können, wenn sie plötzlich mit ganz anderen Geldmengen umgehen können oder müssen. Moessinger sieht das aber anders. „Schwierigkeiten hat es in jeder Phase seit 1980 gegeben. Jetzt haben wir kein Zelt mehr, und es kommen auch nicht mehr die Punker. Dieses Haus ist ein Veranstaltungsort für das neue Jahrhundert, und das war eine Herausforderung. Es ist auch international extrem gut angekommen mit seinem vielseitigen Spielplan.“ Angefangen hatte alles in der damaligen Einöde am Potsdamer Platz, als Moessinger ihr Zirkuszelt direkt vor der Mauer im Grenzgebiet zwischen Ost und West aufbaute, das schnell zum Anziehungspunkt für schrille Freaks und Spontis, zuerst auch aus der rebellischen Hausbesetzer-Szene, wurde. Auch neugierig gewordene Lokalpolitiker wie der damalige Kultursenator Volker Hassemer (CDU) gehörten bald zur Anhängerschar der umtriebigen Kulturaktivistin im eingemauerten Berlin. Auch als das Tempodrom 1984 in den Tiergarten neben die Kongresshalle umzog, setzte sich die Erfolgsgeschichte fort. Der historische Standort „In den Zelten“, ein Berliner Vergnügungspark im 19. Jahrhundert an dieser Stelle, lockte jetzt jährlich 200 000 Besucher an. Es war die Mischung aus Hallenkonzerte und Open-Air- Atmosphäre, die die meist jungen Besucher anzog. Die Gästeliste wurde immer bunter – von Daniel Barenboim über Herbert Grönemeyer und Rio Reiser bis Udo Lindenberg, Carlos Santana bis zum Dalai Lama. Aber als die Mauer fiel, warf der geplante Neubau des Kanzleramtes in unmittelbarer Nachbarschaft seine langen Schatten und verdrängte das Tempodrom wieder, das schließlich mit Hilfe von EU-Mitteln den Neubau am Anhalter Bahnhof plante. Aber die Baukosten explodierten, für ein Alternativunternehmen in ungeahnte Dimensionen - von ursprünglich veranschlagten 15 Millionen Mark auf zuletzt 60 Millionen Mark beziehungsweise aktuell 30 Millionen Euro, ein Großteil davon sind Bankkredite aus öffentlicher Hand. „Es ist ein fantastischer Bau, auf den später alle in der Stadt stolz sein werden“, beharrt Moessinger, heute nur noch Pächterin des Tempodroms, das im Besitz einer Stiftung ist. „Völker der Welt, schaut auf diesen Platz! Wir können doch nicht jetzt, wo das Brandenburger Tor offen ist, das Tempodrom zumachen!“ meint ihr langjähriger Mitstreiter, der Kabarettist Arnulf Rating.
Wilfried Mommert
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