Landeshauptstadt: Schneeballschlacht statt Drogen
Wie jugendliche Spätaussiedler in der Villa „Wildwuchs“ ein Leben ohne Kriminalität und Langeweile erlernen
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Babelsberg - Kein Strich, kein Anschaffen, kein Aids: Eine Visitenkarte war es, die der heute 16-jährigen Lena wohl nicht nur einen Rest der kindlichen Unbekümmertheit bewahrt hat, die Mädchen in ihrem Alter eigentlich haben sollten. Heroinsüchtig war sie seit knapp zwölf Monaten, als sie vor etwa einem Jahr die Karte von Sozialarbeiter Waldemar Jungbluth zugesteckt bekam: Er suchte damals gezielt nach abgesackten russischen Jugendlichen wie ihr und traf das Mädchen in einem als „Kifferwäldchen“ bekannten Fleck beim Wohngebiet Am Schlaatz zufällig an. Wohl der Anfang vom Ende ihrer Drogenkarriere. „Wir haben viel über meine Probleme geredet. Er ist so einer der wichtigsten Ansprechpartner für mich geworden“, sagt Lena heute. Inzwischen hat sie eine freiwillige Entziehungstherapie abgeschlossen. Und geht normal auf eine Potsdamer Schule. Sie sagt: „Ich bin nicht mehr auf Droge.“
Die Bausteine solch positiver Geschichten versucht Waldemar Jungbluth jeden Tag zu schaffen. Seit Juni vergangenen Jahres arbeitet er beim Diakonischen Werk Potsdam e.V. als Streetworker für jugendliche Spätaussiedler aus Russland. Sein Domizil: Die malerisch an der Havel gelegene Villa „Wildwuchs“ am Babelsberger Park – ein Ort zum Seelenbaumeln. „Meine Ziel ist, dass die Jugendlichen mehr Selbstbewusstsein in der deutschen Gesellschaft entwickeln und ihre Chancen erkennen.“ Dazu will er sie vor allem anregen, öfter die deutsche Sprache zu sprechen als die vertrauten Wörter und Redewendungen ihrer Heimat, so der bärtige Mann mit dem russischen Akzent. „Das Hauptproblem sind die Sprachbarrieren: Dadurch sind sie schlecht in der Schule, können keine Gesetze lesen – das macht sie unsicher.“ Und manchmal auch aggressiv.
Doch wenn die Jugendlichen von Waldemar Jungbluth erst einmal das grüne Grundstück der Villa „Wildwuchs“ betreten haben, dann scheint ihr Ego in Ordnung – auch wenn sie hier oft noch unter sich sind und dann doch wieder russisch reden. Die Szene: Ein Grillfest in diesem Sommer, Würste und Brötchen, Tischtennis, Fußball-WM, Gespräche. Kein Alkohol, der ist hier verboten. Ein paar Deutsche sind da. „Ich möchte, dass sich hier mit der Zeit alles mischt – denn viele deutsche Jugendliche haben negative Vorurteile gegenüber Russen und umgedreht“, sagt Jungbluth. Unverständnis und Unkenntnis schafft Aggression. Und Ausgrenzung. Und sozialen Abstieg.
Es sind solche Zusammenhänge, gegen die der 45-jährige Waldemar Jungbluth schon sein ganzes Berufsleben lang zu kämpfen versucht. Angefangen hat er in Russland mit Kindern aus Waisenhäusern, spricht von „furchtbaren Zuständen“, die er damals erlebte, als er „die Kids“ in die russische Gesellschaft integrieren wollte – und viele den Sprung nicht schafften, im Knast landeten. Als Jungbluth vor rund neun Jahren nach Deutschland kam, bekam er einen Job bei der Berliner Drogenberatung. Wieder Jugendliche ohne Perspektive, die gern und viel Alkohol tranken, oft Drogen nahmen – und selbst nicht mehr an ihre Chance glaubten. Wie jetzt auch in Potsdam.
Da ist zum Beispiel Anton, 16 Jahre alt, auch ein Kind von Spätaussiedlern. Bevor er die Villa „Wildwuchs“ kennen lernte, hing er nach der Schule oft im Schlaatz herum. Nichts zu tun zwischen Plattenbauten. Langeweile. Billiger Fusel. „Meine Eltern bekommen Hartz IV, da bleibt nicht viel übrig.“ Und nur wenn man Geld habe, so seine Logik, „dann ist immer was los.“ Für Jugendliche wie ihn hat Waldemar Jungbluth drei Projekte geschaffen: Eine Angelgruppe. Gemeinsames Klettern in Berlin. Und eine Fußballmannschaft. Dazu kommen Kinobesuche oder eben Grillabende. Kostenlos. „So etwas kann man sich sonst kaum leisten“, findet Anton und sieht ernst dabei aus.
Das Geld für solche Annehmlichkeiten kommt vom Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge. Noch zwei Jahre lang. Bis dahin möchte Jungbluth für die russischen Spätaussiedler in Potsdam und ihre Kinder eine funktionierende Infrastruktur geschaffen haben, in der sie sich treffen können – und durch die der Kontakt zu den Einheimischen gefördert werden soll. „Ich verstehe mich als eine Art Brücke für das gegenseitige Kennenlernen“, sagt Jungbluth. Damit dieser Ansatz noch funktioniert, wenn sein Projekt nicht mehr da ist, setzt er auf die Eltern seiner Jugendlichen. Bald sollen sie ehrenamtlich bei seinen Ideen helfen – zum Beispiel beim Fußball mittrainieren. Jungbluth ist sich seiner Sache gewiss: „Es lassen sie so unheimlich viele Sachen verwirklichen, weil hier oft noch wohlwollend von allen möglichen Institutionen Unterstützung kommt – nicht so wie in Russland.“
So konnten die Jugendlichen der Villa „Wildwuchs“ zusammen mit Jungbluth im vergangenen Winter nach Dresden fahren. Noch heute leuchten die Augen von Anton, wenn er zusammen mit Lena von der Tour erzählt – aber nicht wegen der Kultur, die sie dort gesehen haben. Von der Busfahrt dahin schwärmen sie, „mit lauter Musik.“ Von dem Essen beim Chinesen. Von der Schneeballschlacht, weil in Potsdam in dieser Zeit eben kein Winter im eigentlichen Sinne herrschte. Von diesen kleinen Dingen zehren sie noch heute. Waldemar Jungbluth sagt über die jugendlichen Spätaussiedler von der Villa Wildwuchs: „Sie haben oft schon eine Menge mitgemacht, manche der Mädchen sind körperlich schon Frauen. Doch im Kopf, da sind es alles noch Kinder.“
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