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Landeshauptstadt: Therapie für Fingerzähler

Rund sechs Prozent aller Grundschulkinder leiden unter Rechenschwäche. Gezielte Förderung kann helfen. Die Stadt Potsdam kommt für die Kosten auf.

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Rund sechs Prozent aller Grundschulkinder leiden unter Rechenschwäche. Gezielte Förderung kann helfen. Die Stadt Potsdam kommt für die Kosten auf. Von Marion Hartig Sie sieht wie ein ganz normales Schulkind aus. Orangener Pulli, Blümchenjeans, langes, dunkles Haar, große, braune Augen, die neugierig durch das Zimmer wandern. 135 + 24? Melanie rechnet. Sie blickt in die Luft, auf den Tisch, auf ihre Hände. Unruhig schiebt sie sich auf dem Stuhl vor und zurück, bis sie es endlich raus hat: 159. Geschafft. Die Anspannung lässt nach. Einmal in der Woche kommt das 9-jährige Mädchen aus der dritten Klasse in die Hebbelstraße 12 und lernt mit Einerwürfeln, Zehnerstangen, Hunderterplatten und 1000er Würfeln aus Holz, mit Eierpappen und Steckwürfeln Mathematik von Grund auf. „Ihr fehlt das mathematische Grundverständnis, die Vorstellung davon, welche Menge hinter einer Zahl steckt und was mit ihr beim Rechnen passiert. Deshalb hat sie den Anschluss an den Unterricht verpasst“, berichtet Jörg Kwapis, der Leiter des Zentrums zur Therapie der Rechenschwäche Potsdam und Therapeut von Melanie. Im Durchschnitt sechs Prozent aller Grundschulkinder leiden an Rechenschwäche, in Fachkreisen als Dyskalkulie oder Arithmasthenie bezeichnet. Die Zahlen lassen sich auch auf Potsdam übertragen, erklärt die Psychologin Dr. Angelika Köhnke von der Universität Potsdam. Dabei seien Kinder mit Rechenschwäche keineswegs weniger intelligent als andere. „In anderen Fächern sind ihre Leistungen durchschnittlich oder gut. Nur eben in Mathematik haben sie arge Probleme.“ Je früher Rechenschwäche erkannt wird, stellt die Psychologin klar, je leichter lässt sie sich beheben. Das Potsdamer Schulamt hat dafür schon 1993 in Zusammenarbeit mit der Universität Potsdam eine Beratungsstelle eingerichtet. Dort fördern Lehrer und Sonderpädagogen Kinder ab der dritten Klasse. Und zwar kostenlos. Darüber hinaus bieten in Potsdam zwei private Einrichtungen Therapien für Kinder, Elternberatung und Lehrerfortbildung an: das kürzlich gegründete Paetec-Institut in der Behlertstraße und das ZTR in der Hebbelstraße. Melanies Mutter hat sich für die private Alternative entschieden. Vor 15 Monaten hat ihre Tochter mit der „Mathematiktherapie“ angefangen, seit dem hat sich Melanie verändert, erzählt sie. Früher war sie sehr in sich gekehrt. Heute ist sie viel offener. Sie weint nicht mehr so oft beim Hausaufgabenmachen und muss Rechenaufgaben endlich nicht mehr an den Fingern abzählen. Kosten für die Therapie kommen auf Melanies Mutter keine zu. Wie für ein Drittel bis zur Hälfte der 40 Kinder am ZTR übernimmt die Stadt Potsdam die Förderung – vorausgesetzt das Gesundheitsamt diagnostiziert Rechenschwäche. Geregelt wird das durch Paragraph 35a des Sozialgesetzbuches. Den Paragraphen, der jüngst in die Diskussion geraten ist. Ein auch in den PNN abgedruckter Artikel der Nachrichtenagentur Associated Press (AP) hatte Mitte Februar von Millionärskindern berichtet, für deren Internatsaufenthalte Jugend- und Sozialämter aufgekommen seien, genehmigt auf der Grundlage des besagten Paragraphen. In Potsdam allerdings werde die gesetzliche Regelung nicht missbraucht und trotz knapper Kassen wackele niemand an der Förderung, stellt die Sprecherin der Stadt, Rita Haack, klar. Melanie nippt an ihrem Wasserglas und lächelt schüchtern, während die Erwachsenen einmal mehr über ihr „Defizit“sprechen. Früher hat man ihr gesagt, sie sei dumm – das hat sich tief eingegraben. Sie malt gerne Einhorne, ihre kleine Schwester kann das aber viel besser. Sie mag Sport, aber sie ist darin nicht besonders gut, erzählt das hübsche Mädchen, als sei es ganz selbstverständlich, dass sie schlechter sei, als andere. Kinder mit Dyskalkulie haben bestimmte gedankliche Prozesse nicht durchlaufen, beschreibt Kwapis die Ursachen von Rechenschwäche. Anders als Kinder mit Leserechtschreibschwäche leiden sie nicht unter Wahrnehmungsstörungen. Ihr Problem sei vielmehr der Unterricht, die Didaktik, nach der Kindern im Anfangsunterricht Mathematik beigebracht werde. Die Psychologin Köhnke sieht das Problem vielschichtig. Dyskalkulie habe fachmathematische als auch psychologische Gründe. Das Elternhaus, das Lehrer-Schüler-Verhältnis, Versagensängste, das Umgehen mit Misserfolgen, spielten eine Rolle. Eine Art „emotionale Sperre“ blockiere die Kinder beim Nachdenken. Aber auch die Wissenschaft tappt bei der Ursachenforschung noch auf weiter Strecke im Dunkeln. Die Uni Potsdam führt Anamnesen durch, berichtet die Psychologin. Die Wissenschaftler haben sich aber mehr der Hilfe von rechenschwachen Kindern verschrieben. Sie bieten Fortbildungskurse für Lehrer und Seminare für Mathematikstudenten an. „Was passiert wenn du 35 von 122 abziehst?“, fragt indes Kwapis in dem kleinen Unterrichtsraum. Melanie schiebt sich ein Motivations-Bonbon in den Mund, bevor sie zum letzten Mal die Holzstäbe auf dem Tisch verschiebt und rechnet. Sie lächelt. Die letzte Aufgabe für heute wird sie auch noch hinter sich bringen.

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