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Kultur: Nivellierung des Fühlbaren

Musik auf den Tanztagen: Kaja aus Schweden

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Jeden Sommer kommen Gestrandete in die Stadt. Sie versprechen sich, dass von den Tischen der Straßencafés etwas für sie abfällt. Seit Tagen streift ein junger Mann mit dunklen Locken umher. Er schüttelt den Staub aus seinen Socken. Er muss von weit her kommen, so dicht ist die Wolke. Dann sieht man ihn mit den Fingernägeln sein langes Haar untersuchen. Am nächsten Tag bittet er drängend einen Wirt, eine Konserve für ihn aufzuwärmen. Die Zeit der Zigeuner ist noch lange nicht vorbei. Nur die Umherstreifenden sehen dieser Tage anders aus.

Kaja, ein Trio aus Schweden, interpretiert mit Violine, Kontrabass und Akkordeon die Musik des Straßenlebens neu. Und der Schwarzgelockte, so verwirrt, ausgeschlossen, beinahe geächtet er sein mag, hatte schon vor dem Konzert sein Bündel auf einen Stuhl in der Kneipe der fabrik abgelegt. Das kann kein Zufall sein.

Die Geigerin Livet Nord, die in dieser Kammermusikformation die Melodie vorgibt, ist dem Publikum der Tanztage vom „New Tango Orchestra“ in Erinnerung. Deren Auftritt in der fabrik vor einem Jahr lassen die Gäste jetzt voller Erwartung wispern. Konzertanter Tango, ernst und hingebungsvoll. Dass Musik aus Schweden so tief berührten konnte. Das Strahlen, das damals von Livet Nords Spiel ausging, sucht nun erneut seinen Weg zu den Zuhörern. Stühle sind rar, man steht, diskutiert die eben zu Ende gegangene Aufführung. Camillas Piratenkopftuch verschwindet hinter ihrem großen Akkordeon. Daniel am Kontrabass zupft so beherzt die Saiten, dass sie oft wie ein zusätzliches Trommeln klingen.

Die meisten Stücke sind von Kaja selbst geschrieben. Sie sind vom Tango gestartet, um in den Liedtraditionen von Nord- und Südeuropa zu wildern. Und so wie Europa nicht unbedingt besser wird, wenn alle Länder gleich werden, wird diese Musik nicht intensiver, wenn sie Gipsy-, Klezmer- und Folkloreklänge zu easy-listening zusammen führt. Das Tempo ist an die durchschnittliche Europareisegeschwindigkeit angepasst, die Melodien sind so schön wie eine Collage aus schwedischen Seen vor Masurischen Feldern mit Schweizer Wipfeln im Hintergrund. Wohin mag das führen. Zu reinstem Amüsement am Abend, aber auch zur Nivellierung des Fühlbaren. Das Wesen mit den verfilzten schwarzen Haaren, ein Geist, den keiner beachten will, hat irgendwann seinen Schlafsack aufgenommen und ist unbemerkt verschwunden. Matthias Hassenpflug

Matthias Hassenpflug

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