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Jung geblieben. Seniorengymnastik bei der Hamburger Turnerschaft.

© dpa

200 Jahre Hamburger Turnerschaft: Deutschlands ältester Turnverein ist auch einer der innovativsten

Die Hamburger Turnerschaft feiert sich zwei Jahrhunderte nach Gründung als ältester Turnverein Deutschlands. Sie hat einen Widerspruch aufgelöst und Standards gesetzt.

Was denn, der älteste Turnverein Deutschlands wird schon wieder 200? Oder hat er zwei Jahre lang durchgefeiert? 2014 hatte doch erst der TSV Friedland zum Jubiläum geladen, nach Mecklenburg zwischen Neubrandenburg und Anklam. Was will also an diesem Freitag die Hamburger Turnerschaft von 1816 im Hamburger Rathaus? Sich in der Sportgeschichte vordrängeln?

Das haben die Hamburger nicht nötig. Und es gibt sogar einige gute Gründe, die Hamburger Turnerschaft als ältesten Turnverein Deutschlands zu sehen und diesen Freitag als Feiertag des Turnens. Die Gründe hat Hans-Jürgen Schulke zusammengetragen. „Erstens ist Friedland praktisch 50 Jahre ein Turnplatz an einer Schule gewesen“, also kein Verein im engeren Sinne, „und zweitens hat Friedland nicht annähernd den Erfolg gehabt wie die Hamburger Turnerschaft.“ Ein bisschen parteiisch mag Schulke sein, er war Sportamtsleiter in Hamburg, hat die Hamburger Olympiabewerbung für 2012 koordiniert. Als Sportsoziologe und Sporthistoriker will der Hochschullehrer jedoch eine fundierte Einschätzung liefern. Das hat er in einem sehr gelungenen Buch getan. „Als Vereine in Bewegung kamen“ dokumentiert die Entstehung der Turnvereine in Deutschland und ihre Entwicklung bis heute, bis zur Integration von Flüchtlingen. Die Hamburger Turnerschaft von 1816 ist dabei die Referenzgröße.

Am Anfang des Buches stand für Schulke eine Portion Ärger. Darüber, dass Sportvereine sich ständig rechtfertigen müssen. Dass es immer um Turnhallenmief und Vereinsmeierei geht, wenn man einmal grundsätzlich über sie spricht. Für Schulke sind sie etwas ganz anderes. „Wo sonst werden die Losungen der Moderne so konsequent und praktisch umgesetzt wie in der Vereinsbewegung: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und ein Recht auf ein erfüllendes Leben.“ Mehr Demokratie als in einem Verein gehe nicht.

Diese Geschichte beginnt jedoch nicht in Hamburg, sondern in Berlin. In der Hasenheide richtet der Hilfslehrer Friedrich Ludwig Jahn 1811 den ersten Turnplatz ein. Es ist der Startschuss für eine außergewöhnliche Entwicklung. In der Hasenheide treffen sich Männer, um selbstbestimmt Sport zu treiben, sie reden sich mit „Du“ an. Dieses selbstorganisierte Turnen ist der Beginn des deutschen Sportvereinswesens. Für Schulke ist Jahns Turnplatz wie ein Fitnessstudio – locker, flexibel, selbstbestimmt und wer möchte, bekommt fachliche Anleitung.

Jahns Idee verbreitet sich, sie kommt an vielen Orten an, unter anderem in Hamburg. In Berlin selbst wird der erste Turnverein erst 1848 gegründet, die Turngemeinde in Berlin. Das habe vor allem mit Angst vor der Obrigkeit zu tun, sagt Schulke. Im offenen hanseatisch-liberalen Hamburg sind die Voraussetzungen für einen Zusammenschluss günstiger und mit der HT16, wie die Hamburger Turnerschaft heute abgekürzt wird, bildet sich ein besonderer Verein heraus. Vor dem Ersten Weltkrieg war er mit 4000 Mitgliedern der größte in Deutschland, seine Innovation erschöpft sich nicht in Gründung und Größe. Die HT16 gibt als erster eine Vereinszeitschrift heraus und stellt dadurch Transparenz her, lässt in Hamburg als erster Verein Frauen Fußball spielen, richtet eine Sportgruppe für Herzpatienten ein, den sogenannten Koronarsport, baut als erster Turnverein 1987 ein eigenes Fitnessstudio auf und löst damit den vermeintlichen Widerspruch zwischen Verein und kommerziellen Anbietern auf. Und später legt die HT16 den ersten Öko-Audit auf, setzt also auch beim Umweltbewusstsein Maßstäbe.

Der Deutsche Turner-Bund hat sich auf den Wettbewerb um den ältesten Turnverein ohnehin nicht eingelassen. „Friedland ist für uns 200 Jahre Turnen, die HT16 200 Jahre Turnverein“, formuliert es DTB-Präsident Rainer Brechtken salomonisch. Das Modell Sportverein sollte die HT16 zwischenzeitlich eigens nach China exportieren. „Aber die Chinesen konnten mit diesem Prinzip der Selbstorganisation nichts anfangen“, erzählt Schulke. Er findet es erstaunlich, dass die Sportvereine zu einer solchen Erfolgsgeschichte geworden sind, 90 000 gibt es in Deutschland mit insgesamt 27 Millionen Mitgliedschaften. „Sie sind doch ein fragiles Gebilde. Jeder kann schließlich jederzeit ein- und auch wieder austreten.“

Insofern hält Schulke die deutschen Sportvereine auch für professionell und modern zugleich und immer noch für unterschätzt. „Vereine müssen keine glattgegelten Dienstleister sein“, sagt er, „aber sie sollten schauen, wie sich die Menschen weiter in ihrer Freizeit verhalten, gerade in Bezug auf Unterhaltung, Bildung, Geselligkeit.“ Vor allem sollten sie sich der digitalen Kommunikation nicht verschließen, den Mitgliedern durch Newsletter, Apps und Portale Möglichkeiten zum flexiblen Sporttreiben bieten. Kaum eine Organisation könne Menschen so leicht und gut zusammenbringen wie Sportvereine. Da sei es vorbildlich, dass der Klub Sportspaß Hamburg, mit 72 000 Mitgliedern der größte Sportverein der Stadt, eine Partnerbörse eingerichtet hat.

Als Vereine in Bewegung kamen. Eine faszinierende Zeitreise durch den Sport.“ Herausgegeben von Hans-Jürgen Schulke. Verlag Die Werkstatt. 320 Seiten, 34,90 Euro.

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