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Das wohl bekannteste Magdeburger Gesicht der Fußballgeschichte: Jürgen Sparwasser dreht nach einem Treffer jubelnd ab.

© dpa

40 Jahre danach: Der unerhörte Sieg des 1. FC Magdeburg

Der 1. FC Magdeburg holte vor 40 Jahren den einzigen Europapokalsieg für die DDR. Heute kann der Fußball im Osten von solchen Triumphen nur träumen.

Die weißen Bademäntel mussten sie wieder abgeben. Der Europapokal aber bleibt für immer. Oder besser gesagt, der Ruhm, den die Spieler für den 1. FC Magdeburg damit errungen haben. Damals, 1974. Seitdem hat das aus Ostdeutschland kein Verein mehr geschafft. Und überhaupt war es das erste Mal. In jeglicher Hinsicht also ein Rekord.

Wenn heute einem ostdeutschen Verein mittelfristig der Sprung in den Europapokal zugetraut wird, dann RB Leipzig. Dank des österreichischen Brauseherstellers Red Bull hat RB einen steilen Aufstieg erlebt, aus dem Nichts, als völlig neuer Verein, der aus dem SSV Markranstädt herausgekauft wurde. Nur fünf Jahre nach Vereinsgründung sind die Sachsen in die Zweite Liga aufgestiegen. Eine ostdeutsche Erfolgsgeschichte vom Reißbrett, von Anfang an durchkalkuliert von einem milliardenschweren Sponsor.

Andere Ostvereine kämpfen derweil ums Überleben. Dynamo Dresden befindet sich im Abstiegskampf der Zweiten Liga, Energie Cottbus hat ihn bereits verloren. Hansa Rostock dümpelt im Mittelfeld der Dritten Liga, neben dem Halleschen FC, Rot-Weiß Erfurt und dem Chemnitzer FC. Carl Zeiss Jena spielt in der Regionalliga. RB mag mit seinem Modell zwar die geballten Antipathien traditionsliebender Fußballanhänger auf sich ziehen. Schneller als es diesen lieb ist, könnte der Emporkömmling aber der stärkste Fußballverein aus den neuen Bundesländern sein.

Wolfgang Seguin hat sein eigenes kleines Archiv.
Wolfgang Seguin hat sein eigenes kleines Archiv.

© Ganske-Zapf

Schneller Erfolg hin oder her, in der Vereinsführung des 1. FC Magdeburg hält man das Modell RB nicht für nachahmenswert. Für kein Geld der Welt, so versichert der Viertligist aus der Landeshauptstadt Sachsen-Anhalts jedenfalls, hätte sich der Klub seine Tradition abkaufen lassen. Der Stolz auf diese Tradition liegt in der 230 000-Einwohner-Stadt förmlich auf der Straße, direkt auf dem Breiten Weg. 60 mal 60 Zentimeter Bronze und Granit erinnern an den größten Fußballerfolg, eine Bodenplatte mit der Aufschrift „Europapokal 1. FC Magdeburg 1974“.

1974 - ein besonderes Jahr für den DDR-Fußball

Das Jahr 1974, es war ein ganz besonderes in der Geschichte des deutschen Fußballs. Bayern München gewann damals als erster deutscher Verein den Europapokal der Landesmeister, den Vorgängerwettbewerb der Champions League. Im Sommer wurde zudem die Fußball-WM in der Bundesrepublik ausgetragen mit dem Titelgewinn für den Gastgeber. Die DDR hatte sich zum ersten Mal überhaupt für eine WM-Endrunde qualifiziert. Und prompt besiegte die Elf in der ersten Gruppenphase den späteren Weltmeister im einzigen Aufeinandertreffen der Nationalteams beider deutscher Staaten. Das entscheidende Tor erzielte Jürgen Sparwasser.

Mit Sparwasser schließt sich der Bogen zu jener Bodenplatte in Magdeburg. Der Stürmer gehörte zu der Mannschaft, die den Europapokal der Pokalsieger gewann. Es war der einzige internationale Vereinserfolg aus Ostdeutschland. Nicht dass es an Spitzenfußball gemangelt hätte. Dynamo Dresden, Carl Zeiss Jena, Lok Leipzig, das waren große Namen, auch in Europa. Die Magdeburger jedoch holten den prestigeträchtigen Pott. Das war am 8. Mai 1974.

Gegner im Finale war der AC Mailand, bei dem damals die italienische Legende Gianni Rivera an der Seite des in die Jahre gekommenen Deutschen Karl-Heinz Schnellinger Erfolge feierte. Seit kurzem ihr Trainer: Giovanni Trapattoni. Obwohl die jungen Herausforderer aus Magdeburg im Halbfinale Sporting Lissabon ausgeschaltet hatten, waren sie Außenseiter. „Aber im Laufe des Spiels hat man gemerkt, dass wir den Gegner praktisch beherrschten“, sagt Sparwasser heute, „und das gibt Selbstvertrauen.“ Als kurz vor der Pause das 1:0 durch ein Eigentor der Italiener fiel, „war mir schon klar: Wenn die nicht mehr zu bieten haben, werden wir das Spiel gewinnen.“

Der Moment, in dem es endgültig um den AC Mailand geschehen war, prangt in Schwarz-Weiß an der Wand eines Partyraums in einem Einfamilienhaus in Stendal im Norden Sachsen-Anhalts. Der italienische Torhüter Pizzaballa liegt da am Boden, auf das runde Leder schielend, das sich dick und prall vor den Maschen des Netzes ausmacht. Im Hintergrund jubelt Wolfgang Seguin mit hochgerissenen Armen, der Torschütze zum 2:0-Endstand. Seguin, den man seit seiner Jugend nur Paule nennt, ist heute 68 Jahre alt und steht in seinem Keller direkt vor dieser Aufnahme wie in einem Museum für Heimatkunde. Es hängen Wimpel und Mannschaftsfotos daneben, alles aus den 70er-Jahren. Was der FCM-Rekordspieler da versammelt hat, sind auch Symbole einer ganzen Ära im Ostfußball, der Pokalsieg war über Mauern hinweg ihr stärkster Ausdruck – mit dem im Westen kaum jemand gerechnet hatte.

Das Feijenoord-Stadion „De Kuip“ in Rotterdam war nur spärlich gefüllt an jenem Tag. „Die Enttäuschung war groß“, erzählt Seguin, „zu Hause hatten wir oft 45 000 Zuschauer, beim Halbfinale in Lissabon über 70 000, beim Endspiel nur 5000.“ Hätte es offene Grenzen gegeben, glaubt er, wären die Ränge ausverkauft gewesen: „Aber so durften ja nur die rüber, die, wie man so sagte, die Gesinnung hatten.“ Selbst den Spielerfrauen war der Ausflug ins nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet verweigert worden. Stattdessen reisten ein paar hundert ausgesuchte Unterstützer mit.

Auch Mannschaftskapitän Manfred Zapf, ostdeutsche Liberolegende, erinnert sich an die leer gefegten Sitzreihen: „Die italienischen Fans hatten anscheinend kein großes Interesse. Sie dachten wahrscheinlich, dass es einen Kantersieg für ihre Mannschaft geben würde.“ Bis heute ist das Negativrekord bei den Zuschauerzahlen für ein Europapokalfinale. Überrascht wurden dann diejenigen, die gekommen waren. Zapf: „Von Minute zu Minute feuerte uns das Publikum immer stärker an, weil unser Spiel sie mehr überzeugte als das der Mailänder.“ So viele Zuschauer wie zu diesem Spiel und mehr haben die Magdeburger Fußballer übrigens heute in der Regionalliga. Auch Zapf ist manchmal darunter.

Seit Jahren treffen sich die alten Helden des FCM

Am Tag des Endspiels regnete es wie so oft im Sommer ’74. Als die Magdeburger den Rasen betraten, war das ein Déjà-vu unter neuen Vorzeichen. In der ersten Europapokalrunde hatten sie dort NAC Breda ein 0:0 abgetrotzt, das nach dem anschließenden 2:0-Heimsieg zum Weiterkommen berechtigte. Hinter den Kulissen hatte da auch der Architekt der Mannschaft seinen Auftritt, Trainer Heinz Krügel. Noch in derselben Saison sollte er mit dem FCM zum zweiten Mal DDR-Meister werden. Mit einem Durchschnittsalter von 22,3 Jahren war das die jüngste Mannschaft, die diesen Titel jemals erringen konnte. Beim Spiel gegen NAC Breda in Rotterdam jedenfalls stellte sich Krügel vor sein Team und sagte, dass sie sich alle genau dort zum Finale wiedersehen würden. Wenn Jürgen Sparwasser heute so darüber nachdenkt, fällt ihm sein erster Impuls wieder ein: „Was erzählt der denn da für einen Quatsch?“ Krügel starb 2008, der Platz vor dem Magdeburger Stadion trägt seit 2006 seinen Namen.

Seit Jahren treffen sich die Helden des FCM rund um den 8. Mai, um ihren Triumph zu feiern, immer bei einem anderen ehemaligen Spieler: vom Torhüter Ulli Schulze über Mittelfeldregisseur Jürgen Pommerenke, für den ein Vertragsangebot des FC Zürich von der Stasi abgefangen worden war, bis hin zu Axel Tyll, der Seguins Treffer vorbereitet hatte. Und Manfred Zapf. Der Sieg war für ihn „unfassbar im ersten Moment“. Zur Pokalübergabe lagen sich die Männer in den Armen, gehüllt in weiße Bademäntel gegen die Kälte. Die flatterten in der Ehrenrunde um ihre Beine, Zapf und Sparwasser liefen vornweg mit dem Pokal. Die flauschigen Mäntel hatten sie später schon einstecken wollen. Wie sich herausstellte, waren sie nur geliehen.

Nach dem Freudentaumel fuhr die Mannschaft zurück in ihr Hotel an der Nordsee. Hier sollte die Party steigen. Doch der mitgereiste Generalsekretär des ostdeutschen Fußballverbands, Günter Schneider, drückte auf die Stimmung. Mit der Siegprämie soll das Trainingslager der Nationalmannschaft finanziert werden, teilte er den Spielern mit, und außerdem darf nicht so ausgiebig gefeiert werden. Das gelte insbesondere für die fünf Spieler des WM-Kaders, die am nächsten Morgen in besagtes Lager nach Schweden reisen müssten und damit den Empfang mit den Fans in Magdeburg verpassen würden. Die Partykosten jenes Abends übernahm schließlich der holländische Hotelchef, die WM-Spieler Sparwasser, Seguin, Tyll, Pommerenke und Martin Hoffmann fehlten aber tatsächlich bei der Heimkehr an die Elbe.

Dass dieser Erfolg möglich wurde, sei gar nicht so überraschend gewesen, befindet Kay Schiller, Autor eines Buches über das WM-Jahr 1974 und Sporthistoriker an der Durham Universität in England. Er spricht von einer „goldenen Generation“ von DDR-Spielern und einem „attraktiven, disziplinierten und athletischen Angriffsfußball“. Im Westen, so Schiller, sei die mannschaftliche Geschlossenheit oft als „kommunistischer Roboterfußball“ verunglimpft worden. In der DDR aber war Fußball der populärste Sport, erklärt er. Jedoch nicht bei den Staatsoberen, weil „aufgrund der geringen Planbarkeit lange nicht so erfolgreich wie andere Sportarten“. Man wisse ja, wie wichtig internationale Erfolge gewesen sind. Der Prestigegewinn durch den Sieg habe daher vorerst den Erfolgsdruck auf den Fußballverband verringert. Eine Besonderheit in Magdeburg, und erst recht für einen Europapokalsieger, war, dass alle Spieler der 74er-Elf aus der Region stammten.

Die historische Leistung beeinflusst den Klub bis heute

Die historische Leistung dieses Teams beeinflusst den 1. FC Magdeburg bis heute. „Paule“ Seguin zum Beispiel ist immer ehrenamtlich dabei, derzeit im Sportbeirat. Und da war er nie der Einzige. Der Einfluss der Erfolgsmannschaft, der viel, viel tiefer geht, ist das Vermächtnis. Eins, das sich wie ein schweres Erbe übers Stadion legt und doch die große Verheißung bleibt. Graffiti vom Cupsieger an den Sanitärbaracken, Werbung für eine Heinz-Krügel-Aktie im Wert von 19,74 Euro, um ein Denkmal für den Trainer zu finanzieren, und vor den Toren des Stadions Gedenktafeln. Alles immer auch initiiert von den Fans. Schade, sagen sie, dass wir nicht höherklassig spielen. Schon wegen der alten Erfolge. Vom Ausverkauf der Ostklubs sprechen viele, wenn sie an die Abwärtsspirale denken, die nach der Wiedervereinigung richtig Fahrt aufnahm. „Scheiß Westen“, heißt es da öfter mal lapidar, weil talentierte Kicker einst haufenweise abgeworben wurden. Der Traditionsverein FCM ist nach Trainerwechseln und finanziellen Achterbahnfahrten heute ein Viertligist mit Aufstiegsträumen.

Nun nährt eine Mannschaft, die mit Tradition nichts am Hut hat, erstmals wieder Hoffnung auf solche Erfolge im Osten. Sie ist in der Stadt beheimatet, in der 1900 der DFB gegründet wurde und aus der drei Jahre später der erste Deutsche Meister kam. Gemeint ist RB Leipzig, jener umstrittene Klub. Die Österreicher haben sich weltweit prominent im Sportsponsoring in Szene gesetzt. Neben Events mit dem „Air Race“ oder dem „Crashed Ice“ leistet sich der Konzern auch den österreichischen Fußballmeister: Red Bull Salzburg. Bestimmungen des DFB untersagen indes, dass das sächsische Pendant den Firmen- im Vereinsnamen tragen darf, weshalb RB recht holprig für Rasen-Ballsport steht. Vielen Fußballfans ist das alles ein Graus.

Doch längst nicht jeder ist gegen dieses Modell, wenn doch bislang kein anderes Rezept gegen das Abrutschen des Ostfußballs in die Bedeutungslosigkeit gefunden wurde. Sogar unter den Magdeburger Legenden finden sich Fürsprecher. Jürgen Sparwasser sagt frei heraus: „Das ist doch die einzige Möglichkeit.“ Bei aller guten Nachwuchsarbeit, und bei all den schönen, neuen Stadien, die es mittlerweile gibt, brauche es vor allem Geld, um gute Spieler zu holen und zu halten. Vielleicht ist es ausgerechnet dieser traditionslose Leipziger Klub, mit dem eine neue ostdeutsche Fußballtradition begonnen hat – 40 Jahre nach dem Triumph des 1. FC Magdeburg.

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