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Sport: 53,30 überwältigende Sekunden

Britta Steffen schwimmt Weltrekord über 100 Meter Freistil und holt ihr zweites Gold bei der EM

Britta Steffen heulte schon, als sie aus dem Pool kletterte. Dann verschwand sie hinter einer Werbebande, sank in die Knie und schluchzte hemmungslos. Überwältigt von zu vielen Gefühlen, überwältigt von 53,30 Sekunden, überwältigt von einem Begriff, der in leuchtendem Orange an der Anzeigetafel im Schwimmstadion von Budapest blinkte: Neuer Weltrekord. Britta Steffen aus Berlin, 22 Jahre alt, hatte gerade bei den Europameisterschaften in Ungarn ein großes Rennen über 100 Meter Freistil geschwommen, 53,30 Sekunden, zwölf Hundertstelsekunden schneller als der alte von Lisbeth Lenton (Australien), fast eine Sekunde schneller als bei ihrem bisherigen Deutschen Rekord. „Ich bin fassungslos“, sagte sie mit verheultem Gesicht. Ihr zweiter Weltrekord bei dieser EM, nach der Bestmarke mit der 4-x-100-Meter-Freistilstaffel. „Unglaublich“, „absoluter Wahnsinn“, „weiß nicht, was ich denken soll“, das ganze Gefühlsleben der Britta Steffen sprudelte in gehaspelten Begriffen und Sätzen aus ihr heraus. Aber Worte können ohnehin nicht wirklich darstellen, was da abgelaufen war. Ihre starke Staffelzeit, ihr Deutscher Rekord im Halbfinale, das alles bereitete sie nicht auf diesen Moment vor. Der traf sie trotz ihrer Vorleistungen wie ein Keulenschlag.

Und irgendwann sagte sie: „Ich bin immer noch der gleiche Mensch wie vorher. Ich habe gedacht, dass man mit einem Weltrekord ein Übermensch ist.“ Man muss diesen Satz erklären, er hängt mit dem früheren Leben der Britta Steffen zusammen. Dieser Satz greift zurück in eine Zeit, in der ein Weltrekord für Britta Steffen das Maß aller Dinge war. Es gab nur dieses Ziel, wer es erreichte, hatte sein Lebensglück vollendet. In diesem Leben drang zu Britta Steffen nur eine Botschaft durch: „Wenn Du schlecht schwimmt, bist Du ein schlechter Mensch.“ Dieser Satz, sagt Britta Steffen, habe sich wie eine Kette um sie gelegt. Er war dabei, ihre Seele zu erdrücken.

Die Geschichte der Britta Steffen ist die Geschichte einer Befreiung. Damals, als sie noch ein Riesentalent war, da spürte sie keinen Druck. Da lief alles so geschmeidig und erfolgreich. 1998 zweimalige Jugend-Europameisterin, 1999 sogar sechs Jugend-Titel, alles lief toll. Und die gleichen Kommentare wie bei Franziska von Almsick: „Riesentalent, Topstar der Zukunft“.

Britta Steffen trainierte immer verbissener, jedes schlechte Trainingsergebnis geriet jetzt zur persönlichen Niederlage. Doch sie konnte die Erwartungen nie erfüllen. Ihre nicht, die der Trainer nicht. Olympia 2000: Britta Steffen schwimmt nur einmal in der Staffel. Im Vorlauf. Olympia 2004. Wieder nur ein Staffel-Einsatz, wieder nur im Vorlauf. Sie schwimmt mäßig, sie hockt auf der Tribüne, und am liebsten hätte sie geheult.

Bis dahin hatte sie ihre seelischen Schmerzen mit noch mehr knüppelhartem Training bekämpft. Jetzt ging das nicht mehr. Nach Athen 2004 ging sie zu ihrem Trainer Norbert Warnatzsch und sagte: „Ich brauche eine Auszeit.“ In Ordnung, erwiderte der Coach. Er gab ihr die Adresse der Psychologin Friederike Janofske. Die hat auch schon mit Franziska van Almsick zusammengearbeitet. Der Schwimmstar litt unter Essstörungen. Steffen und van Almsick waren Trainingskolleginnen bis Athen. Aber sie waren auch Konkurrentinnen auf den gleichen Strecken. Der Austausch mit ihr war nicht besonders groß, sagt Steffen.

Sie holt jetzt alles nach, was sie wegen des Sports kaum machen konnte und wollte. Disco, Partys, Bummeln, ausgiebig Shoppen. Sie denkt ans Karriere-Ende. Aber sie kann nicht los lassen, sie geht in die Halle, zum Training der anderen. Doch sie spürt schleichend, aber unaufhörlich, dass sie nicht mehr wirklich dazu gehört. Die anderen stöhnen über das harte Training, über brutale Serien, über brennende Muskeln. Die gemeinsamen Qualen erzeugen das Gruppengefühl. Britta Steffen steht dabei und schweigt. „Ich konnte nur zuhören, ich hatte das alles ja nicht selber erlebt“, sagt sie. Eigentlich fühlt sich jetzt schlimmer als zuvor. Vom alten Leben hat sie sich gelöst, das neue ist keine Alternative. „Discos, Weggehen, Party, das war nicht mein Ding auf Dauer“, sagt sie.

Nach drei Monaten will sie wieder anfangen. Mädchen, sagt Warnatzsch, „das ist zu früh“. Erst soll sie lernen, mit Druck umzugehen. Sonst, das weiß der erfahrene Coach, droht der nächste, vielleicht schlimmere Zusammenbruch. Britta Steffen redet viel mit der Psychologin. Bei ihr lernt sie, die Welt außerhalb des Schwimmbeckens bewusst wahrzunehmen. Sie lernt, dass es andere, größere Probleme gibt als ein verpatztes Rennen oder eine missglückte Wende. In dieser Zeit übernimmt Britta Steffen die Patenschaft für ein afrikanisches Waisenkind. „Ich habe es gemacht, weil ich erkannt habe, was wirklich wichtig ist“, sagt sie.

Im August 2005 fängt Britta Steffen wieder mit dem Schwimmen an. Und ins Wasser geht jetzt der Mensch Steffen. Diese Britta Steffen schwimmt jetzt befreiter und auch deshalb so schnell wie noch nie. Aber sie ist noch mitten in dieser Entwicklung. Einmal pro Woche geht sie unverändert zu Friederike Janofske. Sie legt größten Wert auf diese Sitzungen. Vermutlich ist das auch gut so. Denn ganz abgenabelt von ihrem früheren Denken hat sie sich nicht. Gestern Abend, zehn Minuten nach ihrem Weltrekord, sagt sie, eingeschoben zwischen „Wahnsinn“ und „fassungslos“, auch noch: „Ich habe all die Menschen, die etwas von mir erwartet haben, nicht enttäuscht.“

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