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Sport: 800 Meter Freiheit

Hannah Stockbauer unterbricht ihre Karriere – das ist die Chance für junge Schwimmerinnen

Berlin - Natascha Kraus hätte jetzt gerne ihre Gegnerin auf Bahn eins umarmt. Sie gleitete von Bahn zwei schon auf sie zu, doch dann zuckte sie zurück. Die Schwimmerin auf Bahn eins war selber viel zu erschöpft, sie hatte jetzt keine Kraft und keine Lust, sich mit der jungen Freistil-Schwimmerin aus Gladbeck zu freuen. Also stemmte sich Natascha Kraus aus dem Becken, zog ihre Badekappe vom Kopf und blickte noch mal kurz zur Anzeigentafel in der Berliner Halle an der Landsberger Allee. Dann lachte sie – Platz zwei über 800 Meter Freistil in 8:50,02 Minuten. Den Titel bei den deutschen Meisterschaften hatte sich Jana Henke aus Potsdam geholt, aber das war ohnehin klar. Henke beherrscht diese Strecke bestens. Und die 20-jährige Natascha Kraus hatte auch die Qualifikationsnorm für die Weltmeisterschaft in Montreal verpasst, um 15,02 Sekunden.

Aber das alles spielte keine Rolle in dieser Sekunde. Ein neues Gesicht war vorne gelandet, das war entscheidend. Ein jahrelanges Ritual war beendet: Henke oder Hannah Stockbauer? Wer würde die 800 Meter gewinnen, wer würde Zweite? Seit 1998 beherrschten diese beiden Frauen die 800 Meter Freistil in Deutschland. Sechs Mal gewann Hannah Stockbauer aus Erlangen, ein Mal Henke, fünf Mal wurde Henke Zweite. Nur 2001, da schob sich die Rostockerin Peggy Büchse auf Rang zwei. Henke wurde Dritte.

Und die Anderen? Sie hatten einfach keine Lust mehr. „Wir haben durch diese Dominanz mehrere Talente verloren“, sagt Ralf Beckmann, der Chef-Bundestrainer. „Die mussten sich ja in Deutschland gegen eine Europameisterin und gegen eine mehrfache Weltmeisterin durchsetzen.“ Henke gewann bei der EM 2002 Gold über 800 Meter, Stockbauer ist Weltmeisterin auf der Strecke.

Aber jetzt ist ein Platz frei geworden. Stockbauer macht eine lange Pause. Olympia 2004 war ihr vorerst letzter Wettkampf, er ging gnadenlos daneben. Die fünfmalige Weltmeisterin kam in kein Einzel-Finale. „Ich hoffe, dass sich jetzt wieder andere deutsche Schwimmerinnen dieser Strecke zuwenden“, sagt Beckmann. „Das Leistungsloch hinter Jana Henke ist doch groß.“ Aber Henke ist schon 31 Jahre alt, eine neue Generation kann sich die 800 Meter erobern.

Sie brauchen Perspektiven, die Talente. Sonst reduziert sich das Training zur Qual. „Eines muss man sich klarmachen: Wer für die Langstrecke trainiert, der muss gnadenlos Kilometer schrubben“, sagt Beckmann. Stockbauer hat in der Olympiavorbereitung 3300 Kilometer im Wasser zurückgelegt.

Jetzt zieht sie gemütlich ein paar Kilometer pro Woche durchs Wasser. Bewegungstherapie, um den hochgezüchteten Körper abzutrainieren, mehr nicht. Zwei Jahre Pause will sie machen. Bei Siemens absolviert die 23-Jährige eine Ausbildung zur Industriekauffrau, die Abschlussprüfung kommt im September 2006. Und dann? „Sie hat sich noch nicht festgelegt, ob sie weitermacht“, sagt Beckmann. Der Trainer Beckmann sieht das skeptisch. „Man kann nicht einfach über Nacht beschließen, dass man wieder einsteigt. Das muss man im Kopf vorbereiten.“ Bei Hannah Stockbauer geht es nicht bloß darum, wieder ins Wasser zu hüpfen. Sie ist fünfmalige Weltmeisterin, sie kenne nur noch eine sportliche Steigerung: den Olympiasieg. Wenn sie 2008 in Peking Gold gewinnen will, dann muss sie sich bald ernsthaft mit dem Thema Comeback auseinander setzen. Doch der Mensch Beckmann hat Verständnis für die Sportlerin. „Sie fühlt sich sehr wohl. Ihre Welt ist derzeit vollkommen in Ordnung, das ist ja auch schön für sie.“ Gut möglich, dass viele ihrer jungen Konkurrentinnen denken, dass das ruhig so bleiben kann.

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