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„Wenn’s schief geht, bin ich halt der Spinner“, hatte Andreas Bretschneider vorher gesagt. Es ist schief gegangen.

© dpa

Absturz statt Gold: Bretschneider scheitert am Bretschneider

Mit dem schwierigsten Turn-Element überhaupt, benannt nach ihm selbst, wollte Andreas Bretschneider in Rio zu Gold fliegen. Doch bereits in der Qualifikation stürzte er ab.

Von Christian Hönicke

Andreas Bretschneider wollte fliegen, wie noch nie ein Mensch zuvor geflogen ist. Er wollte die schwierigste Flugübung zeigen, die je bei einem offiziellen Turnwettkampf gezeigt wurde. Im olympischen Reckfinale plante er eine Zirkusnummer, die die ganze komplizierte Turnmaterie auf ein Kernelement reduziert, das jeder versteht: Gold oder Absturz.

Doch der Traum vom Olympia-Gold dauerte für Andreas Bretschneider nur zehn Sekunden. Dann stürzte er ab.

In der dramatischen Turnqualifikation der Männer am Samstag in der Rio Olympic Arena mit der Verletzung von Andreas Toba und dem fürchterlichen Beinbruch des Franzosen Samir Ait Said ging das Drama des Chemnitzers am Reck beinahe unter. „Das ist ein schwerer Tag“, sagte Bretschneider, „das kotzt mich richtig an.“ Er war als Geheimfavorit angetreten, doch 13,633 Punkte reichten nicht für das Reckfinale der besten acht Turner. Das erreichte sein Teamkollege Fabian Hambüchen, der am Samstag nach seiner Schulterverletzung wie in alten Zeiten turnte. Nach Bronze in Peking und Silber in London hat er nun die Chance, am 16.8. eine weitere Medaille bei seinen letzten Spielen zu holen.

Die schwerste Turnübung überhaupt

Bretschneider war am Bretschneider gescheitert. An jenem von ihm erfundenen Doppelsalto rückwärts mit zwei Längsachsendrehungen über die Reckstange, der so rasend schnell abläuft, dass man es mit dem bloßen Auge kaum sehen kann. Der gebürtige Berliner hat vier Jahre lang an diesem Kunststück gearbeitet, er kann es gehockt und gestreckt. Die beiden Elemente heißen Bretschneider 1 und 2, es sind die beiden schwersten im Turnen überhaupt, für sie hat der Weltverband eigens die Wertungskategorien H und I geschaffen.

Für die Qualifikation hatte Bretschneider die leichtere Variante gewählt. Er turnte nur den gehockten Bretschneider 1, „den habe ich in Rio von 20 Versuchen 19 mal geschafft“. Noch beim Einturnen klappte er spielend leicht. Beim Bretschneider 2, der noch deutlich schwierigeren gestreckten Variante, lag die Quote nur bei 50 Prozent. Dennoch hatte die Premiere dieser Weiterentwicklung für das Reckfinale geplant. Die Übung hätte einen Schwierigkeitswert von 7,7 gehabt – wenn er sie ohne Fehler durchgebracht hätte, wären selbst Konkurrenten wie der niederländische Star Epke Zonderland wohl machtlos gewesen.

Der Evil Knievel der Reckstange

Das Risiko war hoch, doch Bretschneider ist keiner, der auf Sicherheit spielt. Die Ästhetik eines Zonderland geht ihm ab, er hat sich alles hart erkämpft. Seine stilistischen Mängel umkurvte er, indem er sich auf gewagte Flugelemente spezialisierte. Durch seinen halsbrecherischen Salto wurde Bretschneider auch außerhalb der Turnszene bekannt. Als Evil

Knievel der Reckstange wollte er in Rio endlich seine erste internationale Medaille gewinnen.

„Wenn‘s klappt, ist es geil, dann bin ich der Beste“, hatte er vorher gesagt. „Wenn’s schief geht, bin ich halt der Spinner.“

Immer wieder Nervenflattern

Es ist schief gegangen. Wie schon bei der Turn-WM 2015 in Glasgow. Da gelang ihm der Bretschneider 1 zwar, die Medaille war zum Greifen nah, doch dann stolperte er beim Abgang. Das Problem ist, dass Bretschneider im Gegensatz zum Bühnentier Hambüchen von Lampenfieber geplagt wird. Gegen das Nervenflattern engagierte er eine Mentaltrainerin. Aber auch in Rio bekam der 27- Jährige zwei Tage nach seinem Geburtstag auf dem Podium zittrige Hände, obwohl die Arena nur zur Hälfte gefüllt war. Vielleicht hatte ihn die Ankündigung des deutschen Cheftrainers nervös werden lassen. „Andreas kann sich ein Denkmal setzen“, hatte Andreas Hirsch gesagt.

Statt in den Turnolymp aufzusteigen, landete Bretschneider mit einem lauten Krachen auf der Matte. Er bekam zwar beide Hände an die Reckstange, dennoch rutschte er ab. „Als ich unten lag, habe ich mich sofort geärgert, dass ich nicht entschlossen genug zur Stange gegangen bin“, sagte Bretschneider. „Ich bin etwas länger geflogen als sonst, aber wenn ich den Arm richtig ausfahre, hänge ich ihn ein. Mehr als ein Zentimeter war es mit Sicherheit nicht.“ Dieser Zentimeter wird ihn noch ein paar Jahre in seinen Träumen verfolgen, mindestens vier. „Glücklicherweise sind ja bald wieder Olympische Spiele“, sagte Andreas Bretschneider und lächelte säuerlich. „Dann probiere ich es nochmal.“

Teamwettbewerb als Trost

Aber die Volten des Schicksals sind manchmal schwer vorherzusehen. Als Bretschneider seine ersten Olympischen Spiele schon beendet wähnte, erhielt er eine unerwartete Zugabe. Dank Andreas Toba, der mit einem Kreuzbandriss weiterturnte, und dank Bretschneider selbst, der als Ersatz beim Sprung gekonnt improvisierte, erreichte die deutsche Mannschaft noch das Teamfinale am Montag. Außerdem qualifizierte sich Bretschneider wegen des ungeplanten Sprungs unverhofft für das Mehrkampffinale. „Dort will noch mal Vollgas geben und auch meinen Bretschneider 2 präsentieren“, sagte er. Eine Medaille wird Andreas Bretschneider in Rio nicht mehr holen. Aber hat immer noch die verführerische Möglichkeit, den erstaunlichsten Flug der Olympischen Spiele von Rio zu vollenden. Er wäre ein Spinner, wenn er es nicht versuchen würde.

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