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Ohne Boden unter den Füßen. Stephan Keppler ist der beste deutsche Abfahrer und peilt in Kitzbühel einen Platz unter den besten zehn an.

© dpa

Absturz vor Augen: Skifahrer riskieren ihr Leben

2009 lag Abfahrer Daniel Albrecht nach einem Sturz im Koma. Beim Weltcup-Rennen in Kitzbühel riskieren die Fahrer am Samstag wieder ihr Leben.

Berlin - Es gibt diesen einen Moment, in dem endgültig jedem klar wird, dass es ernst wird. Es ist die Totenstille. Es sind diese angespannten Gesichter im Starthaus, es ist diese absolute Ruhe. „Überall wird Sekunden vor dem Start geflachst“, sagt Stephan Keppler, der beste deutsche Abfahrer. „In Kitzbühel nicht.“ In Kitzbühel geht es für viele um die nackte Angst. Wer die Stöcke in den Schnee rammt, wer sich fertig macht, um sich auf die Piste zu katapultieren, sieht den steilsten Starthang des Weltcups, er sieht die Einfahrt zur Mausefalle, der Passage mit 85 Prozent Gefälle. „Kitzbühel ist extrem. Im Training gehe ich nicht volles Risiko, denn man riskiert nur einmal das Leben“, sagte Beat Feuz, der Schweizer, der vor einer Woche die Lauberhorn-Abfahrt gewonnen hat. Heute muss er volles Risiko gehen, denn heute findet das Rennen auf der Streif statt.

Die Streif ist ein Mythos, die gefährlichste Abfahrt der Welt. Stephan Keppler ist 2010 an der Hausbergkante gestürzt. Der beste deutsche Abfahrer hatte zu früh einen Schwung angesetzt, er blieb liegen, der Rücken schmerzte, aber er war nicht ernsthaft verletzt.

Keppler sagt: „Die Streif ist meine Lieblingsstrecke. Sie liegt mir.“

Sie ist extrem, sie ist gefährlich, „sie liegt in ihrer Bedeutung direkt hinter Olympischen Spielen und der Weltmeisterschaft“, sagt Keppler. Der 28-Jährige fuhr auf der Streif fast immer gut, er war nie unter den ersten zehn – anders als in Lake Louise, wo er mal Achter wurde –, aber auch als er 2010 stürzte, war er schnell unterwegs. Jetzt sagt er: „Ich traue mir einen Platz unter den Top Ten zu, vielleicht sogar einen Platz auf dem Podium.“ Viel Zeit zum Trainieren blieb Keppler nicht. Wegen des schlechten Wetters fiel nicht nur der Super-G am Freitag aus, sondern auch das letzte Schussfahrttraining. Die Strecke sollte für den Höhepunkt geschont werden.

Angst, Respekt; das sind Begriffe, mit denen Keppler wenig anfangen kann. Das sagt er jedenfalls. Selbstverständlich spürt er diese Anspannung am Start, „aber ich weiß, dass ich die Streif bewältigen kann“. Und, ja, „es wird mich auch wieder schmeißen“. Irgendwann, irgendwo, Berufsrisiko. 2011 erlitt er bei einem Sturz in Wengen einen Innenbandriss im rechten Knie.

Keppler redet über Stürze wie ein Kellner, der schulterzuckend registriert, dass ihm eben mal ein Stapel Teller auf den Boden fallen kann. Schwer zu sagen, wie ehrlich das gemeint ist. Aber weil Keppler so redet, klingt bei ihm der lebensgefährliche Ritt über die Streif mitunter auch wie ein Abenteuerurlaub. „Bei der Traverse spüre ich noch richtig das Adrenalin, das ist sonst nur noch selten der Fall.“ Sicher, als er zum ersten Mal die Mausefalle besichtigte, da hatte er „Muffensausen“, aber das ist Jahre her. Aber was ist mit dem Sturz an der Hausbergkante, 2010? „Den habe ich abgehakt“, sagt Keppler. Der belaste ihn nicht mehr. „An dieser Stelle werde ich bestimmt nicht mehr stürzen.“

Keppler besichtigt auch nur 30 Minuten lang die Piste, er gehört zu dem Trio, das am schnellsten fertig ist. Es gebe welche, sagt Keppler, die analysierten 90 Minuten lang quasi jede Welle. „Ich wüsste gar nicht, was ich so lange anschauen sollte.“ Das hört sich arroganter an als es gemeint ist. 30 Minuten sind auch das Ergebnis harter Arbeit. Schließlich hatte es „drei Jahre gedauert, bis ich das Gefühl hatte, dass ich alle Stellen im Griff habe“.

Es ist bei Weltklasse-Abfahrern schwer zu sagen, was an dieser Haltung Selbstschutz und was authentisch ist. Einer wie Keppler darf die spektakulären Stürze der anderen nicht an sich heranlassen. 2009 ist der Schweizer Daniel Albrecht beim Zielsprung gestürzt, er lag wochenlang im Koma. Keppler stand noch im Startbereich, als Albrecht fast gestorben wäre. Die Fahrer verfolgten auf einem Fernsehschirm die Live-Übertragung des Rennens. Albrecht hatte nicht mehr daran gedacht, dass die Kante zum Zielsprung im Rennen gegenüber dem Training um zwei Meter versetzt worden war.

Keppler und die anderen erkannten schon im Ansatz, dass es schiefgehen würde. „Ein paar haben sich vom Fernseher abgewandt“, sagt Keppler. Er nicht. „Ich habe mir das schon angesehen, ich möchte ja wissen, was man bei so einem Sturz für Fehler gemacht hat.“ Später musste er selbst runter, er konnte sich Emotionen nicht erlauben. Doch an der letzten Kante vor dem Ziel, da sprang er nicht ab, er überfuhr sie einfach. Es passierte nichts, aber diese Aktion kostete ihn drei Zehntelsekunden. Diese Verzögerung nahm er in Kauf.

Heute nicht. Heute fährt er volles Risiko.

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