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Debütant am Ball. Jonathan Tah (links) absolvierte im März gegen England sein bisher einziges Länderspiel.

© imago/Contrast

Abwehrprobleme der Nationalmannschaft: Jonathan Tah ist da, Mats Hummels trainiert wieder mit Ball

Bundestrainer Joachim Löw nominiert den Leverkusener Innenverteidiger für den verletzten Antonio Rüdiger nach – die Defensive bleibt aber die Schwachstelle kurz vor dem Beginn der EM.

Joachim Löw drückte den Zeige- und den Mittelfinger seiner linken Hand an den Daumen. Ganz so, als wollte er seinem Satz noch etwas mehr Nachdruck verleihen am ersten Tag nach einer niederschmetternden Diagnose für seinen ausgefallenen Innenverteidiger Antonio Rüdiger. „Wir werden deswegen unsere Ansprüche nicht nach unten schrauben“, sagte der Bundestrainer und spitzte dann den Mund: „Wir werden nicht jammern, sondern aus den Möglichkeiten, die wir haben, das Beste machen. Ich vertraue den Spielern, die wir hier haben.“

Hier, das ist das rund 8500 Menschen beherbergende Örtchen Évian-les-Bains am französischen Südufer des Genfer Sees, das sich die sportliche Leitung der deutschen Nationalmannschaft vor geraumer Zeit als EM-Stammquartier ausgeguckt hat. Gleich nach Ankunft des deutschen Trosses hielt die Mannschaft am Dienstag ein öffentliches Training ab, das rund 2000 Menschen besuchten. Eine feine Geste, wie der Bürgermeister Evians hervorhob, aber auch eine, die aus sportlicher Sicht nicht hätte unglücklicher enden können als mit der schweren Verletzung des 23 Jahre alten Innenverteidigers vom AS Rom.

In einem eigentlich harmlosen Trainingszweikampf mit Thomas Müller riss bei Rüdiger das vordere Kreuzband im rechten Knie. „Heute Morgen hat sich die erste Diagnose unserer Ärzte dann im Krankenhaus noch einmal bestätigt“, sagte Löw und machte dabei ein Gesicht, das zum vorherrschenden Wetter passte - es regnete in Strömen.

In seinen Überlegungen spielte der aufstrebende Rüdiger auf Grund seiner Dynamik und körperlichen Präsenz eine zentrale Rolle. Er sollte an der Seite von Abwehrchef Jerome Boateng solange den angeschlagenen Mats Hummels ersetzen, bis dieser genesen ist.

Tah hatte in den vergangenen drei Wochen individuell trainiert

Noch am Abend entschied sich der Bundestrainer, Jonathan Tah als Ersatz einfliegen zu lassen. Der 20 Jahre alte Innenverteidiger von Bayer Leverkusen, der zu Ostern beim 2:3 gegen England in Berlin sein Debüt in der Nationalmannschaft gab, wird im Laufe des Donnerstags in Evian erwartet. Löw habe ganz bewusst einen positionsbezogenen „Eins-zu-eins-Ersatz“ bevorzugt, wie er erzählte. Dabei sei ihm wichtig gewesen, dass Tah in den vergangenen drei Wochen individuell trainiert habe. Das allerdings nicht auf Anweisung des Bundestrainers, der für etwaige Spontanausfälle gewappnet sein muss, sondern weil Tah seinen körperlichen Rückstand infolge einer Lebensmittelvergiftung aufholen wollte. „Seine Basis stimmt, wir werden ihn in wenigen Tagen hier in das Mannschaftstraining integrieren können“, sagte Löw.

Jonathan Tah ist nicht der erste deutsche Nationalspieler, der durch die Hintertür in ein Turnier gefunden hat. Vor zwei Jahren wurde Shkodran Mustafi für den verletzten Marco Reus nachnominiert, obwohl er kurz zuvor noch aus dem vorläufigen WM-Kader gestrichen worden war. Vor zwanzig Jahren ereilte Jens Todt ein noch verrückteres Schicksal, als er drei Tage vor dem EM-Finale dank einer Ausnahmegenehmigung der Uefa zum deutschen Team stieß. Nach zahlreichen Verletzungen und Sperren standen dem damaligen Bundestrainer Berti Vogts kurz vor dem Finale nur noch acht Feldspieler zur Verfügung, weshalb er zwischenzeitlich damit drohte, die Ersatztorhüter Oliver Kahn und Oliver Reck zu Feldspielern umzufunktionieren. Entsprechend beflockte Trikots wurden sogar schon auf einer Pressekonferenz vorgezeigt.

Ganz so dramatisch ist die aktuelle Lage nicht. In Benedikt Höwedes und Shkodran Mustafi verfügt der nun jüngste Kader aller 24 EM-Teilnehmer über zwei weitere gelernte Innenverteidiger, die sofort einsatzbereit wären. Mustafi vom FC Valencia sei international erfahren, den Schalker Höwedes würde Löw von der rechten Außenverteidigerposition einfach nach innen ziehen. Dann könnte der junge Münchner Joshua Kimmich rechts hinten beginnen, wie es während des Trainingslagers auch schon probiert wurde.

In den vergangenen zwei Jahren ist die Mannschaft nicht mehr an die Form der WM herangekommen

„Beide haben lange nicht mit Jerome Boateng zusammengespielt, aber wir werden das jetzt im Training immer mal wieder üben und dann sehen, wer gegen die Ukraine auflaufen wird.“ Aber auch ohne den Ausfall Rüdigers bildet das defensive Grundverhalten der Mannschaft einen Schwerpunkt für die restlichen Tage bis zum deutschen EM-Auftaktspiel. „Da müssen wir uns steigern“, sagte der Bundestrainer unlängst in Ascona. Spätestens nach der 1:3-Niederlage im vorletzten Testspiel gegen die Slowakei musste Löw einräumen, dass seine Mannschaft im defensiven Denken und Verhalten „noch nicht wieder da“ sei, wo sie bei der WM 2014 war.

Im Grunde ist die Mannschaft in den vergangenen zwei Jahren nicht mehr an die weltmeisterliche Form herangekommen. Das 2:0 im letzten EM-Test gegen Ungarn am vergangenen Samstag war seit dem 1:0 gegen Argentinien im WM-Finale erst das fünfte „Zu null“ in 19 Spielen. Bei zehn Siegen, zwei Unentschieden und sieben Niederlagen lautet das Torverhältnis 39:26 – eine dürftige Bilanz.

Immerhin konnte Mats Hummels nach seinem Muskelfaserriss in der Wade gestern das erste Mal mit dem Ball trainieren, wenn auch separat. Bei ihm werde von Tag zu Tag das Trainingsprogramm gesteigert. Für den großen Rest gilt es in den ausstehenden Einheiten darum, „die richtige Frische und Spritzigkeit zu erreichen“, wie es Löw sagte. Aber natürlich werde auch inhaltlich gearbeitet. Dabei wird es auch um das Verhalten bei defensiven Standards gehen, bei der die deutsche Elf zuletzt nicht gut aussah. Und um das Vermeiden gegnerischer Konter.

Am wichtigsten sei aber, sagte Löw und ballte seine Linke zu einer Faust, dass seine Mannschaft ihre Spielweise durch- und ihre Stärken einbringe. „Dann sollten wir einen guten und erfolgreichen Auftakt in das Turnier haben.“

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