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AHORNBlätter (13): Tugendhafte Tessa

Wolfram Eilenberger redet ausnahmsweise mal mit seinen Studenten - und dann auch noch über Olympia. Das führt zu völlig unerwarteten Erkenntnissen.

Manchmal redet man ja sogar mit den eigenen Studenten. Über Olympia zum Beispiel. Zunächst Eishockey. Dienstag: Deutschland – Kanada. Wir sind uns schnell einig, das wird eine Notschlachtung. Ob denn auch Studierende der Universität von Toronto an den Spielen teilnähmen, frage ich vom Overheadprojektor in die Seminarrunde. Nein, aber ihre Nachbarin werde heute wahrscheinlich eine Goldmedaille gewinnen, meldet sich eine Studentin aus der zweiten Reihe. Aha. Interessant. So viele Nachbarinnen potenzieller Olympiasiegerinnen kenne ich nämlich nicht. Um ehrlich zu sein, keine einzige.

Der Name ihrer Nachbarin sei Tessa Virtue, eine Eistänzerin, erklärt die Studentin. Die Familie wohne gleich im Haus nebenan, in London, Ontario. Tessa und sie seien sogar gleich alt, was Tessa mit 20 Jahren übrigens zur jüngsten Eistanzolympiasiegerin aller Zeiten machen würde.

Sieh an! Wie war sie denn so als Kind, die Tessa? „Ach, eigentlich keine Ahnung“, ächzt die Studentin. Die einzige konkrete Erinnerung, die sie mit Tessa verbinde, sei ein vierjähriges Mädchen, das im Garten einen Flickflack nach dem anderen auf den Rasen zaubert. Danach habe sie ihre Nachbarin nie mehr recht zu sehen oder zu sprechen bekommen. Außer im Fernsehen. Wie, frage ich, nie gemeinsam gespielt auf der Straße? Nein, Tessa war immer beim Training, hatte nie Zeit. Tessa hat drei Geschwister, auch alles Spitzensportler. Die Eltern sind da sehr hinterher.

Sogar auf die gleiche Schule gegangen seien die beiden, aber Tessa war praktisch nie im Unterricht. Immer auf Lehrgängen und so. Klar, wenn man die jüngste Eistanzolympiasiegerin aller Zeiten werden will. Klar. Und die Gute heißt wirklich „Virtue“ mit Nachnamen? „Ja, Virtue, wie die Tugend. Passt doch, nicht wahr?“, sagt die Studentin lächelnd. Passt. Dann mal los mit Aristoteles.

Am Abend sitze ich gespannt vor dem Fernseher und warte auf Tessas Kür. Mit sieben Jahren traf sie ihren Partner Scott Moir. Der war damals neun. Seitdem tanzen sie zusammen auf dem Eis: perfekte Harmonie, schwerelose Eleganz, 221.57 Punkte. Das ist es! Das ist Gold!

Tessa lacht, als wäre sie sehr, sehr glücklich.

Wolfram Eilenberger ist Philosoph, Schriftsteller und langjähriger Kolumnist des Tagesspiegel ("Live aus dem Elfenbeinturm"). Er lebt, schreibt und lehrt in Toronto, Kanada und schreibt im Wechsel mit Benedikt Voigt die Kolumne "AHORNBlätter".

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