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AHORNBlätter (15): Im Zirkus

Wolfram Eilenberger widerlegt diesmal eine an sich stimmig klingende Theorie über die Erfolge kanadischer Wintersportler.

Sergei ist Kasache, Diplom-Pädagoge und Tennislehrer. In dieser Reihenfolge. Persönlich glaube ich übrigens, dass Sergei weder Kasache noch Diplom-Pädagoge noch Tennislehrer ist. Aber das wäre eine andere Geschichte. Außerdem trainiert er im Klub ja nur die „Bärengruppe“. Und die liebt ihn über alles. Denn Sergei ist ein lustiger Onkel. Gelingt es einem Kind – unter Missachtung sämtlicher seiner Anweisungen – einen eigenwilligen Schlag übers Netz zu zaubern, sagt Sergei zum Beispiel: „Wow, Zirkus ist gekommen nach Toronto!“ Er sagt es ziemlich oft. Es ist sein Lieblingsspruch.

Auch bei der Elternschaft ist Sergei recht beliebt, vor allem wegen seiner Neigung zur spontanen, meinungsstarken Theoriebildung. So einen befragt man schon einmal, was ihm an Olympia bisher am Bemerkenswertesten erscheint. Ob ich mir die kanadische Bilanz angesehen hätte, fragt Sergei, während die Bärenkinder die Bälle einsammeln. Habe ich. Und? Was, und? Die Goldmedaillen, wo seien die gewonnen worden, hakt er nach, und gibt sich gleich selbst die Antwort: „Buckelpiste, Snowboardrennen, Skeleton, Skicross! Das sind doch keine Sportarten, das ist doch…“

Zirkus? „Genau, das ist Zirkus!“, nickt Sergei. Die passende Theorie hat er natürlich auch parat: Kanadas Sportförderung hat ganz gezielt und besonders intensiv in diese relativ jungen Außenseitersportarten investiert, um im olympischen Medaillenspiegel überhaupt eine Chance zu haben. Aber mit echtem Sport habe dies nichts zu tun. Im Grunde sei das Schmu. Es geschähe den Kanadiern also nur recht, von den Russen aus dem Eishockeyturnier geworfen zu werden.

Am Abend schlägt Kanada das russische Team 7:3, führt es wie Bären an der Leine vor. Und Kanada gewinnt Gold im Zweierbob. Schade. War so eine schöne Theorie.


Wolfram Eilenberger ist Philosoph, Schriftsteller und langjähriger Kolumnist des Tagesspiegel ("Live aus dem Elfenbeinturm"). Er lebt, schreibt und lehrt in Toronto, Kanada und schreibt im Wechsel mit Benedikt Voigt die Kolumne "AHORNBlätter".

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