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Ein Mann für Indianapolis. Colts-Quarterback Andrew Luck ist die Entdeckung dieser Saison.

© REUTERS

American Football: Die Nacht, in der ein Team verschwand

Die Colts waren Baltimores Football-Stolz – bis sie heimlich nach Indianapolis zogen. Am Sonntag gibt es ein brisantes Wiedersehen in den Play-offs der NFL.

Schnee rieselt leise auf die breite Interstate, als die Trucks Richtung Baltimore rollen. Große, mächtige Trucks mit riesigen Ladeflächen. Mayflower Vans sagt man in den USA zu dieser Art von Lastwagen, benannt nach einem bekannten Umzugsunternehmen. Kevin Cowherd wusste, dass sie irgendwann kommen würden. Aber dass es so schnell geht, überrascht den jungen Sportreporter der „Baltimore Evening Sun“ dann doch. Cowherd hat an diesem winterlich kalten 28. März 1984 Spätdienst, als gegen 22.15 Uhr sein Telefon zu klingeln beginnt. Immer mehr Leute rufen an und melden, dass auf dem Gelände der Baltimore Colts irgendetwas vor sich geht. Und zwar nichts Gutes. Blitzartig stürmt Cowherd aus dem Büro. Er rast mit einigen Kollegen zum Trainingszentrum. Gerade noch rechtzeitig, um mit anzusehen, wie die Umzugshelfer das städtische Footballteam in Kisten verpacken und aus der Stadt bringen. Oder zumindest das, was gerade vor Ort war: Büroartikel, Unterlagen, Trainingsgeräte. Die Spieler befanden sich in den Ferien, einige wussten schon, dass sie zur neuen Saison nicht mehr nach Baltimore zurückkehren. In der Stadt wusste dagegen niemand etwas von dem plötzlichen Abschied.

„Das war alles so surreal, wie in einem Science-Fiction-Film“, sagt Cowherd. „Die Leute vom Unternehmen waren angewiesen, mit niemandem zu sprechen, erst recht nicht mit der Presse. Aber wir sahen auch so, was da passierte.“

Die Nacht, in der die Baltimore Colts nach Indianapolis entschwanden, gilt bis heute als eine der legendärsten im US-Sport. Nie zuvor und nie danach verließ ein Klub derart heimlich eine Stadt, um sich woanders niederzulassen. Dabei sind Umzüge sogenannter Franchise-Unternehmen in den USA keine Seltenheit. Nur eben nicht auf diese Art.

Zwischen der Stadt Baltimore und dem Besitzer der Colts, Robert Irsay, war es zuvor zum Bruch gekommen. Irsay, ein als launisch und aufbrausend geltender Millionär, war mit dem veralteten Memorial Stadium in Baltimore nicht zufrieden und forderte von der Stadt die sofortige Renovierung. Oder besser noch: Ein neues Stadion. In Baltimore sah man jedoch in Irsay den Schuldigen für die Misere. Bevor er die Franchise übernommen hatte, waren die Colts ein Spitzenteam in der National Football League (NFL) gewesen. 1970 gewann Baltimore sogar den Super Bowl. Seit Irsays Übernahme 1972 ging es dann nur noch bergab. 1983 kam es sogar so weit, dass der damals talentierteste Quarterback des Landes sich nach seiner Verpflichtung wegen Irsay weigerte, für die Colts aufzulaufen. Er drohte, lieber Baseball bei den New York Yankees zu spielen, als nach Baltimore zu kommen. Der Mann hieß John Elway, ging zu den Denver Broncos und mit zwei Siegen im Super Bowl als einer der besten Spielmacher in die Geschichte des American Football ein.

Nun gibt es ein Wiedersehen in den Play-offs der NFL

Auch die Stadtväter hatten den exzentrischen Irsay satt und reagierten auf dessen Umzugsdrohungen auf ihre Art. Am 28. März erließen sie ein Gesetz, das es der Stadt erlaubte, Irsay in Bezug auf die Colts quasi zu enteignen. Von Verlustängsten getrieben, einigte sich der Besitzer zeitgleich mit der Stadt Indianapolis, die ein neues Hallenstadion baute, und organisierte den Umzug noch für die Nacht. „Als die Leute am nächsten Morgen davon erfuhren, waren sie geschockt“, erzählt Cowherd. „Um sechs Uhr morgens fuhr ein Fernsehteam zum Haus des Bürgermeisters, um ihn zu interviewen. Er wusste nichts von dem Umzug. Als man ihm erzählte, was geschehen war, lief er weiß an und brachte kein Wort heraus.“

Football hat in der Arbeiterstadt Baltimore die gleiche Bedeutung wie Fußball im Ruhrgebiet. Einige wollten viele Jahre nicht wahrhaben, dass sie nun ohne Team in der NFL dastehen. Die Mitglieder der Marching Band, die die Spiele der Colts im Stadion musikalisch begleitet hatten, trafen sich nach dem Umzug trotzdem noch viele Jahre lang zum Üben. Immer in der Hoffnung, ihre Dienste werden bald wieder von einem Football-Team in Baltimore gebraucht. Der Fernsehsender ESPN drehte über die Band später die preisgekrönte Dokumentation „The band that wouldn’t die“. Aber es dauerte viele Jahre, ehe die Musiker tatsächlich wieder regelmäßig zum Einsatz kommen sollten. 1996 siedelten ausgerechnet die Cleveland Browns, eine nicht minder traditionsreiche Franchise wie die Colts, nach Baltimore über und wurden zu den Baltimore Ravens. Das Team zählte bald zur Ligaspitze, 2000 konnte man sogar den Super Bowl gegen die New York Giants gewinnen.

Auch in diesem Jahr haben die Ravens als Sieger ihrer Division Chancen auf den Titel. Heute treffen sie in der ersten Runde der Play-offs auf Indianapolis (19 Uhr, live bei Sport 1+) – ausgerechnet. Obwohl der Umzug der Colts fast 29 Jahre zurück liegt, haben ihn viele Fans nicht vergessen. „Gerade die Älteren hassen die Irsay-Familie noch immer für das, was sie der Stadt angetan hat“, sagt Cowherd. „Die Stimmung wird sicher aufgeheizt sein.“

Robert Irsay wird davon nichts mitbekommen. Er ist 1997 verstorben. Sein Sohn Jim führt inzwischen die Geschäfte der Colts. Ein Grund für die Leute in Baltimore, ihr einstiges Team freundlicher zu empfangen, ist das sicher nicht.

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