zum Hauptinhalt
Steil gegangen. Im Spiel gegen Nigeria brachte Antoine Griezmann neuen Schwung ins französische Spiel.

© AFP

Antoine Griezmann: Der verkannte Jüngling

In französischen Klubs wollten sie den Angreifer Antoine Griezmann nicht. Zu klein und zu leicht sei er, hieß es. Nun ist er eine der Entdeckungen dieser Weltmeisterschaft.

In seinem Schrank bewahrt Antoine Griezmann einen Gegenstand von ungeheurem Wert auf. Keine Goldbarren, das nicht. Auch kein Gemälde oder exquisiten Schmuck. Es handelt sich um eine alte Stoffhose. Etwas in die Jahre gekommen ist das gute Stück, dennoch sagt Griezmann: „Die Hose ist mein allergrößter Schatz.“

Zinedine Zidane hat sie ihm einst geschenkt. Frankreichs Mittelfeldidol weilte damals mit seinem Klub Real Madrid in San Sebastian und Griezmann, der stand im Stadion hinter dem Tor. Als Balljunge. Seitdem kramt er sie immer mal wieder raus, wenn er auf ein wenig Glück hofft.

Wahrscheinlich hat Antoine Griezmann, 23 Jahre jung, die Hose ziemlich oft aus dem Schrank geholt in den vergangenen Monaten. Der Angreifer ist eine der Entdeckungen dieser Weltmeisterschaft.

Im Viertelfinale gegen Nigeria tat sich Frankreich lange schwer. Verflogen war die Leichtigkeit der Vorrunde, in der die Mannschaft acht Tore in drei Spielen erzielte. Gegen die massive Deckung der Afrikaner hatte Trainer Didier Deschamps in Person von Oliver Giroud und Karim Benzema zwei klassische Angreifer aufgeboten, doch der Plan funktionierte nicht. Die beiden konnten sich kaum durchsetzen und nahmen sich oft gegenseitig den Raum. Nach etwas mehr als einer Stunde hatte Deschamps genug, er tauschte Giroud gegen Griezmann aus und sicherte seiner Mannschaft damit den Einzug ins Viertelfinale, wo sie am Freitag in Rio de Janeiro auf Deutschland trifft. Zwar steuerte Griezmann keinen Treffer zum späten 2:0-Erfolg bei, das erledigten Paul Pogba und Joseph Yobo per Eigentor, aber Griezmann veränderte die Statik des Spiels. Er öffnete Räume für Benzema, Frankreichs Angriffe wurden mit jeder weiteren Minute, in der Griezmann auf dem Feld stand, gefährlicher. Kurz vor dem 1:0 durch Pogba hätte er beinahe selbst getroffen, nur eine spektakuläre Parade von Nigerias Torhüter Vincent Enyeama verhinderte den Einschlag. „Ich bin nach meiner Einwechslung immer wieder steil gegangen“, sagte Griezmann und gab sich bescheiden. „Schließlich hatten wir die gegnerische Abwehr vorher schon müde gespielt.“

In San Sebastian ist er für sein ausgeprägtes Selbstbewusstsein bekannt

Solche Töne sind von Griezmann selten, in San Sebastian ist er für sein ausgeprägtes Selbstbewusstsein bekannt. Über die ein oder andere flapsige Bemerkung ihres Angreifers sehen die Fans im Stadion Anoeta gern hinweg, auch einmal, als er vollmundig seinen Wechsel zu Atletico Madrid ankündigte, wurde darüber nur geschmunzelt. Jung und aufbrausend ist er manchmal. Dafür lieben sie Griezmann fast so sehr wie für dessen Dribblings und Tore. In der vergangenen Saison traf er sechzehn Mal, San Sebastian wurde Siebter. Sein spektakulärstes Tor erzielte er im vergangenen August in der Qualifikation zur Champions League. Beim Hinspiel gegen Olympique Lyon verwandelte er eine Flanke mit einem spektakulären Seitfallzieher und jubelte anschließend ausgelassen.

Es war ein Tor, wie es nur jemand erzielen kann, der über einen besonderen Antrieb verfügt. Und eine gehörige Portion Wut. So wie Griezmann an diesem Spätsommerabend im Stade Gerland. Auf der Tribüne saßen seine Freunde und die Eltern. Antoine Griezmann stammt aus Macon, einer Kleinstadt, 60 Kilometer nördlich von Lyon gelegen. Aber bei Olympique wollten sie ihn nicht. Niemand in Frankreich wollte ihn. „Ich bekam immer die gleiche Antwort. Ständig hieß es, ich wäre zu klein. Kein Klub im Land wollte mich verpflichten“, erzählte Griezmann einmal der spanischen Zeitung „El Pais“. Auch heute noch verfügt er mit 1,74 Metern Körpergröße und 66 Kilogramm nicht gerade über Idealmaße als Angreifer. Zum Vergleich: Sturmpartner Karim Benzema wiegt 83 Kilogramm und ist 1,87 Meter groß.

Griezmann ist nicht angewiesen auf die Wucht eines Benzema, er setzt sich mit seiner enormen Schnelligkeit gegen die Verteidiger durch. Seine Ballbehandlung ist hervorragend.

Der französische Verband sperrte ihn Ende 2012 für mehrere Monate

Es war sicher kein Zufall, dass ihn ausgerechnet ein Klub aus Spanien entdeckte. Jenem Land, in dem Größe und Gewicht beim Fußball keine Rolle spielen, wo es darum geht, wie präzise einer den Ball passen und ihn vor dem Gegner beschützen kann. Spanien, das Land der Xavis und Iniestas, war vielleicht der einzige Ort auf der Welt, an dem Antoine Griezmann Fußballprofi werden konnte.

Ein Späher von Real Sociedad San Sebastian hatte ihn während eines Jugendturniers beobachtet und ihm eine Nachricht in die Tasche gesteckt. Nur ein unscheinbarer Zettel mit einer Telefonnummer. Als Griezmann anrief, glaubte er an einen Streich der Mitspieler. Doch so war es nicht. Im Alter von 14 Jahren verließ er seine Heimat und ging ins Baskenland. Ganz allein. Und weinte jeden Abend vor lauter Heimweh. Das ist lange her. Mittlerweile hat er eine spanische Freundin und lernt Baskisch, die einzige Sprache in Europa, die mit keiner anderen verwandt ist.

In San Sebastian ist er älter, aber nicht unbedingt reifer geworden. Mit einigen Kollegen von der französischen U21 schlich sich Griezmann Ende 2012 aus dem Quartier und feierte in einem Nachtklub so ausgelassen, dass kurz darauf ein wichtiges Qualifikationsspiel gegen Norwegen verloren wurde. Der Verband sperrte ihn und die anderen mehrere Monate. Umso überraschender, dass ihn Nationaltrainer Didier Deschamps trotzdem für die WM nominierte. Aber nach dem verletzungsbedingten Ausfall von Franck Ribery wollte Deschamps auf diesen Spielertyp nicht verzichten. Gegen Honduras durfte Griezmann bereits von Beginn an spielen. Gut möglich, dass Deschamps ihn gegen die großgewachsenen deutschen Innenverteidiger wieder in die Startformation stellt. In Frankreich besitzt Griezmann prominente Fürsprecher, einer von ihnen ist Zinedine Zidane. Der ist so beigeistert von dem Jungen, dem er einst seine Hose schenkte, dass er schon mal bei Florentino Perez vorgesprochen haben soll. Zidane, der zur neuen Saison die zweite Mannschaft von Real Madrid trainiert, riet seinem Präsidenten angeblich, Griezmann lieber heute als morgen zu verpflichten.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false