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Sport: Armstrong stürzt nicht

Jan Ullrich rutscht beim Zeitfahren in einer Kurve aus – nun wird der Amerikaner wohl zum fünften Mal in Folge die Tour gewinnen

Nantes. Lance Armstrong nahm die rechte Hand vom Lenker und ballte die Faust. Eine Sekunde später wiederholte er diese Bewegung. Der Favorit war mehr als erleichtert, er war froh und glücklich. Heute auf den Champs-Élysées in Paris wird der Amerikaner voraussichtlich den fünften Sieg in Folge bei der Tour de France feiern. Doch es wird ein hart erkämpfter Erfolg sein, den er sich erst auf der vorletzten Etappe im gestrigen Zeitfahren sicherte. Erst als Jan Ullrich bei strömendem Regenwetter stürzte, war endgültig klar, dass Lance Armstrong die Tour de France 2003 gewinnen wird.

Ullrich rutschte in einer nassglatten Rechtskurve aus und schlitterte quer über die Straße in die Begrenzungsballen. Rund zwölf Kilometer vor dem Ziel bedeutete der Sturz das Ende seiner Träume. An der gleichen Stelle war bereits Uwe Peschel schwer gestürzt (siehe Artikel unten). Als Jan Ullrich zu Boden ging, war es für ihn allerdings bereits nicht mehr um den Tour-Sieg gegangen. Das wusste der Bianchi-Kapitän, der ständig über die Zeitabstände von seinem Sportlichen Leiter Rudy Pevenage informiert worden war. Elf Sekunden verlor er im Zeitfahren auf Armstrong und liegt nun im Gesamtklassement vor der heutigen Schlussetappe eine Minute und 16 Sekunden hinter dem Amerikaner.

Anfangs lag Ullrich bei starkem Rückenwind vom Meer und einem furiosen Start sechs Sekunden vor Armstrong. Bei der offiziellen Zeitmessung an Kilometer 15 waren beide mit 15:42 Minuten auf die Sekunde gleichauf. Bei 32,5 Kilometer war Ullrich zwei Sekunden schneller, lag später sogar sieben Sekunden vorn, als das Malheur passierte. „Es ging nicht mehr um den Toursieg, aber ich hätte gerne das Zeitfahren gewonnen“, sagte Ullrich. Mit einer zerfetzten Hose und zerrissenem Trikot rollte er nach 49 Kilometern zwischen Pornic und Nantes durchs Ziel. „Ich bin heil durchgekommen, habe mir nichts gebrochen, nur ein paar Schürfwunden“, sagte Ullrich.

Er sei super motiviert gewesen, aber bei dem Regenwetter eigentlich kein Risiko eingegangen, sagte Ullrich. „In dieser Kurve sind viele gestürzt, da war sicherlich auch Öl, so wie ich gerutscht bin“, erklärte der 29-Jährige. „Leider können wir nicht wie in der Formel 1 für dieses Wetter die Reifen wechseln.“ Ullrich wirkte gefasst, doch der Ausrutscher hat ihn auch getroffen. „Natürlich bin ich ein bisschen traurig, es wäre ein Traum gewesen, das Gelbe Trikot anzuziehen“, sagte Ullrich, „wenn es normal gelaufen wäre – was wäre passiert?“

Nach der Nachricht von Ullrichs Sturz rollte Armstrong vorsichtig durch die Wasserlachen in den Kurven der tückischen letzten zehn Kilometer. Seine Mannschaftskameraden Hincapie, Pena und Jekimow hatten ihn gewarnt. „Mir ging es nur noch darum, einen Sturz zu vermeiden“, sagte Armstrong. „Bei einer Minute Vorsprung war es nicht nötig, etwas zu riskieren."

Sieger im Regenrennen und letztlich Nutznießer des Sturzes und der Vorsicht der beiden Rivalen war der Schotte David Millar, der die 49 Kilometer in 54:05 Minuten zurücklegte und mit 54,361 die zweitbeste Durchschnittsgeschwindigkeit der Tour-Geschichte erzielte.

Der Amerikaner Tyler Hamilton wurde mit neun Sekunden Rückstand Zweiter vor Armstrong, dem 14 Sekunden fehlten. Trotz seines Missgeschicks reichte es für den bravourös kämpfenden Ullrich noch zum vierten Platz, 26 Sekunden hinter Millar. Dieser sagte: „Als ich Ullrich mit diesem Tempo auf diesen nassen Straßen loslegen sah, war ich mir sicher: Das geht nicht gut.“ Tatsächlich stürzte Ullrich und wird heute zum sechsten Mal auf dem Podium in Paris stehen.

Armstrong war mit sich nicht zufrieden. „Es war das schwierigste Jahr aus vielen Gründen.“ Er nannte seine eigene Form, taktische Fehler auf den Etappen, das Pech, die Stürze – und eben Ullrich. „Er ist zurück auf seinem höchsten Niveau, vielleicht besser als vorher, er hat uns viele Probleme bereitet“, sagte Armstrong. „Zum ersten Mal, seit ich gegen ihn fahre, hat er uns nachts schlecht schlafen lassen.“

Hartmut Scherzer

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