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Mit Ecken und Kanten. Novak Djokovic ist mit 28 Jahren auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft angelangt.

© AFP

ATP World Tour Finals: Novak Djokovic sehnt sich nach Liebe

Novak Djokovic ist der beste Tennisspieler der Welt, doch um die Zuneigung der Fans muss er hart kämpfen. Auch bei den ATP World Tour Finals in London.

Natürlich, die Vogelgrippe. Auch Milzbrand und dieses Sars. Klar, Krämpfe und Rückenprobleme sowieso. Die Hüfte nicht zu vergessen. Und war da nicht auch noch was mit dem Knöchel? Ach, richtig: mit beiden Knöcheln. Andy Roddick sitzt vor der Presse in New York und zählt sie auf, die vermeintlichen Verletzungen seines kommenden Gegners Novak Djokovic im Viertelfinale der US Open 2008. „Er ist sehr schnell, wenn es darum geht, den Physio zu rufen“, sagt Roddick noch. Leise, aber bestimmt. Zwei Tage später steht Djokovic zum Siegerinterview im Arthur-Ashe-Stadium von Flushing Meadows. „Andy hat gesagt, ich hätte 16 Verletzungen oder so. Aber seht her, für ihn hat es noch gereicht.“ Die amerikanischen Fans reagieren mit einem Pfeifkonzert. Djokovic hat zwar das Match gewonnen, aber nicht die Herzen der Fans.

Sieben Jahre später gibt Novak Djokovic bei den US Open wieder ein Siegerinterview. Gerade hat er das Finale gegen Roger Federer für sich entschieden und damit seinen dritten Grand-Slam-Titel der Saison geholt. Djokovic hat den Gipfel seiner Schaffenskraft erreicht, unangefochten ist er die Nummer eins der Tenniswelt. Die Zuschauer applaudieren dem Champion artig, sie erkennen dessen überragende Leistung an. Doch gekommen sind sie, um Federer siegen zu sehen. Zuvor im Duell auf dem größten Tennisplatz der Welt hat der Schweizer ein Heimspiel. „Roger! Roger!“ schallt es immer wieder durch die Arena. Es hilft nichts, Djokovic spielt 2015 in seiner eigenen Liga. Und er ist nicht nur ein besserer Tennisspieler geworden, sondern auch ein besserer Diplomat. Also sagt er nach seinem Triumph ins Mikrofon: „Roger ist der Liebling der Fans. Wenn man gegen ihn spielt, muss man sich dieser Realität stellen. Aber ich gehe da raus, um mir die Unterstützung zu verdienen. Und hoffentlich komme ich in Zukunft einmal in diese Position, dass ich sie auch bekomme.“

Nach zehn Grand-Slam-Titeln ist Novak Djokovic in die Riege der ganz Großen seines Sports aufgestiegen. Und doch gibt es diesen kleinen Stachel, der an ihm nagt. Er mag der Beste der Welt sein, Roger Federer wird trotzdem mehr geliebt. Das wird auch in der kommenden Woche nicht anders sein, wenn Djokovic und Federer bei den am Sonntag in London beginnenden ATP World Tour Finals schon in der Gruppenphase aufeinander treffen. Djokovic will das Turnier zum fünften Mal gewinnen und damit seine Saison endgültig krönen. Von bisher 83 Matches hat er in diesem Jahr nur fünf verloren, er hat seit Januar 14 Endspiele auf der Tour in Folge erreicht. Und wenn es nicht diese eine Niederlage im Finale der French Open gegen Stanislas Wawrinka gegeben hätte, wäre Djokovic sogar der Grand Slam gelungen – etwas, dass nicht einmal Roger Federer geschafft hat.

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Obwohl es für Federer in den vergangenen fünf Jahren nur noch zu einem großen Titel gereicht hat, ist er immer noch der Gejagte. Dabei stand Djokovic seit 2011 in 15 von 20 Grand-Slam-Finals und hat neun davon gewonnen. Er war insgesamt 172 Wochen die Nummer eins der Weltrangliste und hat gegen Federer in jener Zeit 15 von 23 Matches gewonnen – darunter alle drei Major-Finals. Djokovic ist der beste Defensivspieler, den das Tennis womöglich je hervorgebracht hat. Gegen den unendlich zähen Serben, so scheint es, muss jeder Punkt zweimal gewonnen werden. Aber die meisten Zuschauer kommen nicht, um jemandem dabei zuzugucken, wie er den Gegner zu Fehlern treibt, sondern sie wollen Eleganz und Spielkunst sehen. Doch damit kann Djokovic nur dienen, wenn es gegen die Offensivspieler Federer oder Wawrinka geht – und dann auch nur indirekt. Schon Matches gegen Andy Murray sind wegen des ähnlichen Spielstils eher schwere Kost. Der Liebe zu Novak Djokovic sind daher schon von vornherein hohe Hürden gesetzt.

Als würde er die ganze Welt in Grund und Boden starren

Dass Djokovic darunter leidet, ist vermutlich übertrieben. Aber es erklärt womöglich, warum er auf dem Platz zuweilen komplett die Contenance verliert. Es sind Momente zum Fürchten, ganz so, als würde Djokovic plötzlich eine Maske ablegen. Mit weit aufgerissenen Augen wirkt er so, als wolle er die ganze Welt in Grund und Boden starren. Weder Zuschauer noch Schiedsrichter sind dann vor ihm und seiner Wut sicher. Es ist dies der vielleicht größte Unterschied zu Roger Federer oder dem harten Arbeiter Rafael Nadal, den die Tennisfans ebenfalls mehr ins Herz geschlossen haben als Novak Djokovic. An diesen beiden Spielern muss er sich schon seit Beginn seiner Karriere messen lassen. Sportlich hat er sie mittlerweile überflügelt, aber das reicht Djokovic nicht.

„Ihm gebührt mehr Respekt, als ihm entgegengebracht wird“, hatte sein Trainer Boris Becker vor den Australian Open 2015 noch öffentlich geklagt. Dabei stellt sich inzwischen sogar die Frage, ob es Djokovic eines Tages gelingen könnte, zum erfolgreichsten Tennisspieler aller Zeiten aufzusteigen. Mit 28 Jahren ist er jung genug, um noch einige Jahre an der Spitze zu bleiben. Und anders als der nur elf Monate ältere Nadal wirkt er kein bisschen ausgebrannt. „Ich will mich immer noch verbessern“, hat Djokovic kürzlich nach seinem Sieg beim Turnier in Paris-Bercy gesagt und dann den bemerkenswerten Satz hinzugefügt: „Niemand wird jemals perfekt sein. Aber wenn du es versuchst, erreichst du womöglich Außergewöhnliches.“

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Das Außergewöhnliche steckte immer in ihm. Schon als Kind träumte er davon, einmal die Nummer eins zu sein. Doch die Entwicklung vom großen Talent zum alles überragenden Spieler dauerte seine Zeit. Lange war Djokovic ein Spieler, dem zwar viel Potenzial bescheinigt wurde, der den letzten Schritt aber nicht schaffte. Nicht nur für Roddick war Djokovic lange eine Art „Drama Queen“, weil er sich häufig während der Matches behandeln ließ und immer wieder aufgeben musste. „All diese Erfahrungen haben mich stärker gemacht. Ich habe daraus gelernt und verstehe meinen Körper inzwischen viel besser“, sagt Djokovic heute. 2010 stellte er seine Ernährung radikal um, als bei ihm eine Weizen- und Milchintoleranz festgestellt wurde. Er nahm fünf Kilogramm ab, wurde schneller und spritziger. Heute gilt er als der fitteste Spieler auf der Tour. Siege, wie jener im Finale der Australian Open 2012 gegen Nadal nach fast sechs Stunden Spielzeit, wären früher für Djokovic undenkbar gewesen. Wenn der Körper fit ist, spielt auch der Kopf mit. Selbst Andy Roddick hat seine Meinung über den vermeintlich ewig simulierenden Serben längst revidiert.

Djokovic ist so gut wie nie, davon ist auch sein Trainer überzeugt: „Es ist eine der besten Saisons, die je ein Spieler gespielt hat. Vielleicht die beste überhaupt“, ließ sich Boris Becker gerade erst in der „L’Équipe“ zitieren. Dass Djokovic vor zwei Jahren Becker als Trainer engagierte, wurde in Deutschland mit einer gewissen Verwunderung zur Kenntnis genommen. Dabei wurde allerdings ignoriert, dass absoluten Spitzenspielern das Tennis nicht mehr beigebracht werden muss. Es geht um Nuancen. Darum, einen Champion an der Seite zu haben, der weiß, worauf es in engen Situationen ankommt. Genau das ist Beckers Aufgabe. Zuweilen schießt der Deutsche dabei über das Ziel hinaus und reitet Attacken gegen die Konkurrenz, die Novak Djokovic nicht mehr nötig hat. Die Zeiten, in denen der die stilistischen Eigenarten seiner Kollegen auf der Tour parodierte, sind lange vorbei. Seinen Spitznamen „Djoker“ mag er trotzdem immer noch gern: „Es ist für mich das beste Gefühl der Welt, jemanden zum Lachen zu bringen“, hat Djokovic unlängst auf seiner Facebook-Seite erklärt. Erstrebenswerter wäre für ihn wohl nur noch, als bester Tennisspieler der Welt nicht nur respektiert, sondern auch geliebt zu werden.

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