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Sport: Aus der Tiefe des Schachts

Der FC Erzgebirge Aue spielt künftig in der Zweiten Fußball-Liga – und die Sachsen sind stolz auf ihren kleinen großen Verein

Aue. Das Fax vom Wetterdienst kommt am Donnerstagnachmittag, und es löst allgemeine Aufregung aus im Rathaus von Aue. Unwetterwarnung für das Erzgebirge! Die Wolken hängen schwer und schwarz in den Baumwipfeln, und im Rathaus erinnern sie sich an den August des vergangenen Jahres, als es zwei Wochen am Stück regnete, die Talsperren überfluteten, die Zwickauer Mulde überlief und halb Aue unter Wasser stand. Bloß jetzt nicht! Das Fest des Jahres, ach was: des Jahrzehnts, steht an: am Sonntag, wenn der FC Erzgebirge Aue gegen die Amateure von Borussia Dortmund spielt, im „hoffentlich für lange Zeit letzten Regionalligaspiel in Aue“. So steht es in der Lokalausgabe der „Freien Presse“.

Vor einer Woche hat der FC Erzgebirge mit einem 2:1 beim Dresdner SC die entscheidenden Punkte für den Aufstieg in die Zweite Bundesliga geholt. Das will begossen werden. Nach dem Sieg in Dresden haben Spieler, Fans und Funktionäre ein bisschen gefeiert. Aber die große Aufstiegsparty steigt erst heute. Es gibt Freibier rund um die Wiesen am Carolateich, der damals, als die Flut kam, nicht mehr als ein solcher zu erkennen war, weil die gesamte Innenstadt ein riesiger Teich war. Einen guten Meter hoch stand das Wasser im Erzgebirgsstadion. Die Regionalliga-Saison hatte begonnen, und wenn Uwe Leonhardt heute von den dramatischen August-Wochen erzählt, dann spricht er vom „Kriegszustand, den wir hier in Aue hatten“.

Uwe Leonhardt ist seit 1992 Präsident des FC Erzgebirge. Ein energischer Mann, Selfmade-Unternehmer. Einer, der mitreißen kann. Die deutsche Flutkatastrophe im Sommer 2002 hat er nicht nur als dramatischen Einschnitt in die Lebenswirklichkeit des Erzgebirges gesehen, sondern auch als Chance, alle Energien zu bündeln und Außergewöhnliches zu leisten. Noch heute leuchten Leonhardts Augen, wenn er erzählt, wie er seine Mitarbeiter versammelt und von ihnen 24 Stunden Einsatz am Tag verlangt hat, „ich habe gar nicht daran gedacht, diesen Kriegszustand aufzuheben“. Der Mannschaft hat er einen langen Vortrag gehalten, dessen Inhalt sich in etwa so zusammenfassen lässt: „Ihr habt nur eine Pflicht: Ihr müsst gewinnen.“ Die Spieler haben sich daran gehalten.

Die größte Fahne ist sechs Meter lang

Der Aufstieg hat ungeahnte Begeisterung im Erzgebirge ausgelöst. Am Donnerstag sind drei Schlosser auf den Schornstein der alten Nickelhütte geklettert, um die graue Esse mit einer lila-weißen Klubfahne zu schmücken – in 130 Meter Höhe. In der ersten Euphorie forderte der Landkreis Aue-Schwarzenberg alle Betriebe zur Beflaggung auf, was leichter angeordnet war als umgesetzt, denn 1600 lila-weiße Fahnen hatte niemand auf Lager. Also startete Uwe Leonhardt das, was er eine „Karacho-Aktion“ nennt. Er hat die sächsische Textilindustrie mobilisiert, und irgendwie haben sie es geschafft. In den Tagen vor der Aufstiegsparty kleiden sich die Städtchen entlang der Erzgebirgsbahn einheitlich in Lila-Weiß.

Die größte Fahne hängt im Treppenhaus des Auer Rathauses, gut sechs Meter lang erstreckt sie sich vom zweiten Stock bis hinunter ins Vestibül. Bürgermeister Heinrich Kohl hat sie selbst dort angebracht. Für ihn ist der Aufstieg des FC Erzgebirge mehr als nur ein sportliches Ereignis: „Ein Signal für die Menschen hier, dass sie etwas leisten können.“ Sie wollen wieder wer sein im Erzgebirge. Aue ist eine schöne Stadt mit viel Grün und ohne Platte – aber eben auch das, was Marktanalysten eine strukturschwache Region nennen: Der nächste Autobahnanschluss ist 15 Kilometer entfernt, zu weit für Investoren. Große Freiflächen zur Ansiedlung von Industrieparks gibt die Gebirgslandschaft nicht her. Die Bevölkerungsentwicklung ist rückläufig, mit jedem Jahr wird Aue älter. Junge Leute wandern ab, weil sie auf dem Arbeitsmarkt kaum Chancen haben. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 22 Prozent, weit über den 16 Prozent, die Sachsen im Durchschnitt aufweist.

Vor fünfzig Jahren sah das ganz anders aus. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Aue eine Boomtown, Sitz der Wismut, einer deutsch-sowjetischen Aktiengesellschaft, die Uran für das sowjetische Atomprogramm aus den Minen des Erzgebirges förderte. Die Wismut warb mit Löhnen, die 50 Prozent über dem Durchschnitt lagen, mit zusätzlichen Brot- und Fleischrationen, mit Kaffee, Seife und Kartoffeln. Bergleute aus ganz Deutschland kamen ins Erzgebirge, auch aus den westlichen Besatzungsgebieten. Aue hatte zeitweise knapp 40000 Einwohner, doppelt so viele wie heute. Die Bergleute amüsierten sich in Etablissements wie dem „Café Röckchenhoch“, in dem man es nicht so genau nahm mit HwGgE, „häufig wechselnden Geschlechtspartnern gegen Entgelt“, wie die Prostitution im verquasten Deutsch der Volkspolizei hieß. Um die in den in 1600 Meter tiefen Schächten schuftenden und stets vom Lungenkrebs bedrohten Kumpel auf andere Gedanken zu bringen, wurde ein Fußballklub gegründet: die BSG Wismut Aue, Vorläufer des FC Erzgebirge.

Das westliche Sachsen war damals eine Fußball-Hochburg im Osten Deutschlands. Die Dichte mit Teams aus Aue, Meerane, Zwickau, Karl-Marx-Stadt und Lauter in der Oberliga war so groß, dass die Fußballer aus dem erzgebirgischen Dorf Lauter kurzerhand an die Ostseeküste verfrachtet wurden, wo sie heute als FC Hansa Rostock in der Bundesliga spielen. Wismut Aue gehörte von 1951 bis 1990 der DDR-Oberliga an, wurde dreimal Meister und spielte noch in den Achtzigerjahren im Uefa-Cup. Die Fans nannten Wismut das „Schalke des Ostens“, was allerdings weniger auf die sportliche Klasse anspielte denn auf den bergmännischen Hintergrund beider Klubs. Nun wird auf Schalke schon lange keine Kohle mehr gefördert, und auch die Uran-Vorkommen des Erzgebirges sind seit Jahren erschöpft. Nach dem Ende der DDR übergab die Sowjetunion ihre Anteile an der binationalen Aktiengesellschaft der Bundesrepublik. Die Wismut wechselte die Rechtsform und widmete sich fortan als GmbH der Sanierung der stillgelegten Schächte. Heute ist sie mit 4000 Beschäftigten noch immer einer der wichtigsten Arbeitgeber im westlichen Sachsen. Für den Fußball aber war kein Geld mehr da. 1992 stieg die Wismut als Trägerbetrieb aus, der Klub stand vor dem Zusammenbruch.

Wismutianer sind alle geblieben

Uwe Leonhardt, in Aue geboren und „seit frühester Kindheit dem Fußball verfallen“, stieg damals als Präsident mit dem Ziel ein, „den Verein wie ein mittelständisches Unternehmen zu führen – also ohne den Ehrgeiz, sportliche Ziele zu erreichen, die man sich finanziell nicht leisten kann“. Der erste Schritt zum Neuanfang war die Aufgabe des alten Namens. Als Präsident eines FC Erzgebirge wollte Leonhardt Unternehmen aus der Region gewinnen. Das Konzept ist aufgegangen. Der FC Erzgebirge Aue ist gesund, der DFB erteilt die Lizenz in schöner Regelmäßigkeit ohne Auflagen. Und die Fans haben Frieden geschlossen mit dem neuen Namen. Wismutianer aber sind sie geblieben, noch heute brüllen sie: „Wir kommen aus der Tiefe, wir kommen aus dem Schacht. Wismut Aue, die neue Fußball-Macht!“ Ob ihm das unangenehm ist? Leonhardt lacht. „Das ist doch eine erfreuliche Tradition.“ Er hat in seiner Jugend auch in der Fankurve gestanden.

Direkt neben Leonhardts Büro in der Geschäftsstelle am Erzgebirgsstadion hängt das schwarze Brett des Klubs, das natürlich ein lila Brett ist. Glückwünsche zum Aufstieg aus ganz Deutschland sind angepinnt. Aus allen spricht die Überraschung, die Hochachtung für die Sensation, die der kleine Verein aus dem Südosten Deutschlands geschafft hat. Leonhardt winkt ab. Erst mal sei der FC Erzgebirge kein kleiner Verein, sondern mit 1200 Mitgliedern ein auch für gesamtdeutsche Verhältnisse recht großer. Und was heißt schon Sensation, „das sind alles Vollprofis hier, wir haben optimale Verhältnisse geschaffen“. Und natürlich sei der Aufstieg ein strategisches Ziel gewesen, wenn auch erst für 2004. „Für mich zählt nur der Erfolg“, sagt Leonhardt, „sonst hätte mich das Ganze überhaupt nicht interessiert.“

Jetzt hat er den Erfolg, und was für einen. Nicht der traditionsreiche VfB Leipzig, vor 100 Jahren erster Deutscher Meister, nicht der einstige DDR-Vorzeigeklub Dynamo Dresden, nicht die Großstadtvereine Chemnitzer FC und FSV Zwickau repräsentieren Sachsen künftig im bezahlten Fußball. Ein Städtchen aus dem abgeschiedenen Erzgebirge ist die Nummer eins im Freistaat. Uwe Leonhardt drückt das so aus: „Wir machen im Sport die sächsische Außenpolitik.“ Zur Klärung der politischen Großwetterlage kommt am Sonntag schon mal der sächsische Ministerpräsident Georg Milbradt zur Aufstiegsparty. Die gesamte Innenstadt ist gesperrt, wie 2002, in den Tagen der Jahrhundertflut. Diesmal wird es trocken bleiben. Der große Regen, den das Wetteramt am Donnerstag vorausgesagt hatte, er ist am Erzgebirge vorbeigezogen und über dem benachbarten Vogtland niedergegangen.

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