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Sport: Beim Geist von Spiez

„Sind alles feine Kerle“ – als die Helden von Bern noch nicht wussten, dass sie Helden sind

Georg Seliger würde heute nicht mehr weit kommen. Wahrscheinlich nicht einmal bis zur Rezeption. Wo immer die deutschen Fußball-Nationalspieler residieren – schon weit vor dem Mannschaftshotel wachen schwere, große Männer mit schwarzen Jacken und grimmigen Gesichtern. Am 5. Juli 1954 aber ist niemand da, der Seliger aufhält. „Wir sind da einfach reinmarschiert“, sagt er. Ins Hotel Belvedere in Spiez, direkt in den Frühstücksraum zu den deutschen Nationalspielern. Die waren tags zuvor Weltmeister geworden. „Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen“, sagt Seliger.

Georg Seliger, damals 27 Jahre alt, hat sich nie für Fußball interessiert. Am Tag des Finales zwischen Deutschland und Ungarn saß er vor dem Wankdorf-Stadion im Bus seiner Reisegesellschaft aus Paderborn. Die meisten aus der Gruppe hatten Karten für das Endspiel, Seliger hätte ohne weiteres noch eine auf dem Schwarzmarkt kaufen können. Er wollte nicht. „Das war mir zu nass“, sagt er. Der Regen prasselt unaufhörlich. Franz-Josef Ahrens steht trotzdem drei Stunden vor dem Anpfiff auf seinem Platz gegenüber der Haupttribüne. Ungarn geht mit 2:0 in Führung, Deutschland gleicht aus. Die 84. Minute. Rahn schießt … „Es war plötzlich Stille im Stadion“, sagt Ahrens.

Für den damals 22-Jährigen ist es neun Jahre nach dem Krieg die erste Reise ins Ausland. Sein Fußballverein, Grün-Weiß Paderborn, hat den Campingurlaub organisiert, der Vorsitzende bereits Monate vorher Karten für das Spiel um Platz drei und das Finale besorgt. Dass die Deutschen darin mitspielen würde, kann sich zu diesem Zeitpunkt niemand vorstellen. Sechs Franken kostet die Eintrittskarte. Am Tag vor dem Finale werden Ahrens 200 Franken geboten. „Davon hätte ich meinen ganzen Urlaub bezahlen können“, sagt er. 125 Mark kostet die Reise, ein Facharbeiter verdient 1954 durchschnittlich 390,24 Mark im Monat. Ahrens lehnt das Angebot ab.

Nach dem Finale fahren die Paderborner nach Gwatt am Thuner-See, nur ein paar Kilometer von Spiez entfernt. Weil ihr Zeltplatz unter Wasser steht, übernachten sie in einem ehemaligen Theatersaal. Am Morgen regnet es immer noch. Die Urlauber überlegen, was sie unternehmen wollen. „Plötzlich rief jemand: Schnell in den Bus, wir fahren zur deutschen Mannschaft!“ So steht es im Fotoalbum, das alle Mitreisenden später bekommen. Georg Seliger, der noch beim Frühstück sitzt, holt seine Fotokamera, greift sich zwei Filme. Über das, was sie dann in Spiez erleben, sagt Franz-Josef Ahrens: „Das war unser großes Wunder.“ Seliger stürmt mit seiner Kamera in den Frühstückssaal. Er kennt die Spieler nicht. Jemand sagt ihm: „Mensch, schieß doch, das ist der Herberger!“ Seliger schießt, bis beide Filme voll sind. Auf den Fotos aus dem Frühstückssaal ist nachher allerdings nicht viel zu erkennen. Es ist zu dunkel.

Zwei Stunden bleiben die Paderborner in Spiez. Sie sprechen mit den Weltmeistern, fotografieren sie und lassen sich Autogramme geben. Max Morlock, der im Finale gegen Ungarn den Anschlusstreffer erzielt hat, sei der Unkomplizierteste von allen gewesen: „Kommt her, ihr seid doch auch Fußballer!“, sagt er. „Ich führe euch mal rum.“ Als sich die Nationalspieler vor der Kulisse des Thuner-Sees zu einem Foto aufstellen, fragen die Paderborner, ob sie dazu kommen dürften. Seliger hat keinen Film mehr. Er sagt zu einem Kollegen: „,Los, mach du die Bilder!’ Doch der war so am Zittern. Der konnte nicht.“ Seliger lässt sich dessen Kamera geben und fotografiert. „Ich bin natürlich auf keinem Bild drauf. Aber das war mir nicht so wichtig.“

Die Weltmeister kommen ihm vor wie „ganz normale Leute“. In der Reisechronik der Paderborner heißt es: „Sind alles feine Kerle unsere Spieler.“ Franz-Josef Ahrens erlebt die Mannschaft „ganz lässig und locker“. Sogar der sonst so strenge Trainer Sepp Herberger „war wie so ein Kumpel Anton“, sagt Ahrens. „Er war sehr gefasst. Wahrscheinlich hat er innerlich triumphiert.“ Nur Fritz Walter, der Kapitän, „der hatte so ein bisschen Distanz, fand ich“.

In dessen Erinnerungsbuch tauchen die Paderborner nicht auf. Über die letzten Stunden in Spiez hat Fritz Walter geschrieben: „Schnell laufen wir noch einmal hinunter zum See, um Abschied zu nehmen. Dann gehen wir zum Friseur, lassen uns rasieren und die Haare schneiden, um für die Heimfahrt tipptopp zu sein.“ Die Rückkehr nach Deutschland wird zum Triumph.

Ein Sonderzug der Bundesbahn bringt die Mannschaft an diesem Tag bis nach Lindau. An jedem Bahnhof drängeln sich Tausende. Die gesamte Strecke ist von Menschen gesäumt, Sirenen heulen, wenn der Zug vorbeifährt. Franz-Josef Ahrens sagt, dass die Weltmeister wohl erst auf der Rückfahrt begriffen hätten, was sie eigentlich erreicht haben. Die Paderborner waren demnach die Letzten, die die Helden von Bern erlebt haben, bevor denen bewusst wurde, dass sie Helden sind. Von nun an werden die Spieler bejubelt, wo immer sie hinkommen: in München, Essen, Hamburg, Berlin, Bonn.

Vor zehn Jahren ist Franz-Josef Ahrens noch einmal mit Horst Eckel, dem rechten Läufer der WM-Elf, zusammengetroffen. Eckel hat damals für die Sepp-Herberger-Stiftung eine Jugendstrafanstalt in Paderborn besucht. Ahrens hat ihm erzählt, dass sie sich schon einmal begegnet seien, und von dem Besuch in Spiez berichtet. Ja, habe Eckel geantwortet, da erinnere er sich dran. „Sagt er.“

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