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Sport: „Berlin hat viel Energie und Ausstrahlung“

Jürgen Klinsmann über die Bedeutung der Hauptstadt für sein Team, den WM-Start und die Glaubwürdigkeit seiner Arbeit

Herr Klinsmann, Sie sind schon einen Tag vor den Spielern nach Berlin gekommen. Warum diese Eile?

Ich komme direkt aus meiner Stuttgarter Heimat, habe bei Muttern noch einmal so richtig aufgetankt. Nach Schweinebraten mit Spätzle habe ich mir gesagt: So, jetzt flieg mal los.

Ist es denn wirklich ein anderes Gefühl, in Berlin zu sein?

Das ist es schon. Wir sind endlich in Berlin, und jetzt geht es los. Du hast erst einmal eine große Etappe geschafft mit der fast dreiwöchigen Vorbereitung. Wir haben das Gefühl, dass die Mannschaft voll mitgezogen hat, dass die Grundlagen jetzt da sind, dass wir gerüstet sind. Vor allem im Fitnessbereich. Jetzt kann es an die Umsetzung gehen. Du bist jetzt in Berlin und weißt, in ein paar Tagen geht das erste Spiel los. Das ist im Moment ein sehr gutes Gefühl, weil wir die Sicherheit haben, alles getan zu haben, damit wir erfolgreich sein können.

Inwiefern kann Berlin mithelfen?

Wir freuen uns, in unserer Hauptstadt zu sein. Wir passen gut hierher. Ich bin schon früher immer gern hierher gekommen. Berlin hat viel Energie und Ausstrahlung.

Ist die Mannschaft in dem Zustand, den Sie sich gewünscht haben?

Die Mannschaft wird nach wie vor wachsen. Der Zustand, in dem sie sich befindet, lässt sich schwer in Prozenten ausdrücken. Jetzt kommen die Spiele und dazwischen werden wir weiter sehr intensiv trainieren. Wir gehen mal davon aus, dass wir uns immer noch steigern werden. Aber die Grundlagen sind da, und dieser Level ist schon hoch.

Was spricht dafür, dass die deutsche Mannschaft den Titel holt?

Weil wir eine Mannschaft aufgebaut haben, in der sehr viel drinsteckt. Wir haben keine Angst, vor keinem Gegner. Wir haben uns das Selbstvertrauen geholt, damit wir das, was uns vorschwebt, auch umsetzen können. Aber wir wissen natürlich auch, dass es schwer wird.

Ist die Mannschaft mental stabil genug?

Klar, vor einem Eröffnungsspiel gibt es immer Fragezeichen, das kennen wir ja aus der WM-Historie. Aber ich glaube, dass die Mannschaft wirklich Vertrauen in sich hat. Sie hat sich sehr viel vorgenommen, und die Anspannung, die ganz normal ist, wird sich im Eröffnungsspiel nach ein paar Minuten legen.

Sie erhalten fast täglich Ratschläge von früheren Nationalspielern und anderen Experten. Wie gehen Sie damit um?

Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich lese sie nicht.

Nationalmannschaftsmanager Bierhoff sagte, Restzweifel werden immer bleiben. Was werden die Zuschauer von der Mannschaft auf jeden Fall geboten bekommen?

Totales Engagement. Das Publikum wird eine Mannschaft sehen, die an ihre Grenzen gehen wird. Die ihr Bestes geben wird. Die aber auch Fehler machen wird, weil die dazugehören. Es gibt keine perfekte Mannschaft. Dennoch werden wir alles dafür tun, die Fehler zu minimieren. Wir wollen positive Akzente mit unserer Spielweise setzen. Die Mannschaft ist eine Gruppe, die sich gefunden hat, die sich gegenseitig unterstützt, ob das auf dem Trainingsplatz ist oder während eines Spiels. In der Mannschaft passt menschlich alles zusammen, und das ist sehr wichtig. Ich verspreche: Sie wird alles geben.

Täuscht der Eindruck, oder geht es innerhalb des Teams zu harmonisch zu?

Nein, schon deshalb nicht, weil es in einem Mannschaftssport immer wieder Reizpunkte gibt. Es gab immer wieder Trainingseinheiten, in denen der eine oder andere unzufrieden war. Fußball lebt aus der Emotion heraus. Nicht jeder hat immer einen guten Tag. Aber in einer Gruppe, die zusammen etwas erreichen will, wird derjenige, der nicht so gut drauf ist, aufgefangen und wieder mitgenommen.

Wie wollen Sie einer möglichen Verkrampfung vor dem Eröffnungsspiel vorbeugen?

Die Spieler wissen, dass sie bei uns Trainern, wenn das totale Engagement da ist, gut aufgehoben sind. Wir werden sie auffangen, wenn im Training mal etwas nicht so läuft, wenn eine Flanke hinter dem Tor landet. Die Spieler wissen, dass der Trainerstab zum Helfen da ist, nicht zum Schimpfen.

Die Vorrundengegner heißen Costa Rica, Polen und Ekuador. Ist Ihre Mannschaft in der Lage, gegen diese Mannschaften notfalls einen Rückstand aufholen zu können?

Generell glaube ich, dass wir im Stande sind, gegen jede Mannschaft einen Rückstand aufzuholen. Sollte es der Fall sein, dann ist es wichtig, dass die Mannschaft eine entsprechende Körpersprache hat. Michael Ballack kommt da eine besondere Rolle zu. Ich denke, die Mannschaft ist so gewachsen, dass sie erfolgreich in der Lage ist, Rückständen hinterherzugehen, den Schalter umzulegen. Die körperlichen Voraussetzungen dafür haben wir gelegt, wir können jederzeit zulegen. Die Ergebnisse unserer Arbeit spüren die Spieler bereits. Sie merken, dass sie gut drauf sind.

Die Spieler werden vermutlich vor dem Eröffnungsspiel wenig Gebrauch machen von dem Angebot, das Hotel auch mal verlassen zu dürfen. Wird es von Ihnen die Aufforderung geben, mal vor die Tür zu treten und sich abzulenken?

Wir haben das Hotel von der Innenarchitektur her auf ihre Bedürfnisse umgestalten lassen. Es ist jugendlicher geworden. Im Hof sind Zelte mit Möbeln, in denen sie sich wohl fühlen. Das sind ihre Ecken. Aber sie müssen auch wissen: Hey, wenn es mir zu blöd wird, dann gehe ich halt in die Stadt, dann ziehe ich eine Baseballmütze auf und gehe zum Potsdamer Platz. Allein das Gefühl zu haben, rausgehen zu können, ohne dass der Trainer dumm daherguckt, reicht schon aus.

Aber einen Zapfenstreich gibt es doch?

Ja klar, um Mitternacht. Schlaf ist und bleibt wichtig.

Und wie werden Sie es selbst halten?

Wenn die Spieler abends frei haben und essen gehen, dann werden wir Trainer das auch tun.

Auch mit Mütze?

Ich glaube, das wird nicht viel helfen, oder? Nein, sehen Sie, die Spieler reagieren alle unterschiedlich. Dem einen macht es vielleicht gar nichts aus, im Hotel zu bleiben, dort zu regenerieren oder sich anderweitig zu beschäftigen. Andere zieht es nach draußen. Ich war damals ein Spieler, der das Angebot gern wahrgenommen hat.

Was muss passieren, damit Sie nach dem Eröffnungsspiel zufrieden sind?

Wir wollen mit einem Dreier ins Turnier gehen. Wir wollen das Spiel gewinnen und mit unserem Engagement das Publikum ins Boot holen.

Es sind noch wenige Tage, bis es losgeht. Wie unterscheidet sich das Gefühl eines WM-Spielers, der Sie mal waren, von dem eines Trainers?

Als Trainer versucht man, wachsam zu sein, in Bezug auf die Mannschaft, den Betreuerstab, das gesamte Umfeld. Priorität hat jeder einzelne Spieler: Läuft alles, oder gibt es Probleme, die gleich zu lösen sind? Als Spieler hast du sehr auf dich geachtet, hast vielleicht gesagt: So, im ersten Spiel haust du gleich einen rein. Als Trainer hast du den Wunsch, dass alles zusammenkommt, dass alles ineinander greift, dass jeder seinen Teil mit einbringt. Das ist viel komplexer.

Ist es dieses Gefühl, das Ihnen so gefällt an diesem Job?

Ich finde das persönlich absolut faszinierend. Du bist ständig in einem Lernprozess drin. Und weil das Gebilde so komplex ist, hast du das Gefühl, dass dich jeder Punkt und jede Minute persönlich weiterbringen.

Dann wollen Sie also nach der WM weitermachen?

Was wollen Sie denn? Die Konstellation ist klar: Ein Trainer wird am Erfolg gemessen, der sich hoffentlich einstellen wird. Grundsätzlich kann ich mir die Arbeit auch nach der WM vorstellen, weil mir die Arbeit Spaß macht. Wir haben einen Prozess in Gang gesetzt, der weiter andauert und der über die WM hinausgehen sollte.

Wenn Sie nicht weitermachen sollten, würde Ihnen denn so etwas wie ein Abschluss fehlen?

Es muss immer weitergehen. Man hat den Wunsch, dass die Arbeit, die wir vor knapp zwei Jahren begonnen haben, eine langfristige Denkweise wird. Die Mannschaft hat sich dazu bekannt. Sie will einen temporeichen Fußball spielen, wir wollen mit den Besten der Welt mithalten. Das geht nur, wenn du gedanklich sehr schnell bist, wenn du fit bist, diese Spielweise umzusetzen. Unser Wunsch ist es, dass diese Philosophie mittelfristig und langfristig viel weitreichender greift, dass sie bis in die U15 hineingetragen wird. Sie soll Einfluss auf die Trainingslehre und auf die Trainerausbildung bis rein in die Landesverbände haben. Der DFB muss jetzt sagen: Das ist unsere Richtung. Dieser Prozess braucht natürlich seine Glaubwürdigkeit, und die wollen wir uns mit Erfolgen bei diesem Turnier holen.

Vermissen Sie diese Unterstützung vom DFB?

Ich denke, dass wir eine komplizierte Phase hinter uns haben, weil wir der einzige Verband auf der Welt sind, der mit zwei Präsidenten fungiert. Mit der WM im eigenen Land ist eine gigantische Arbeit für all die Leute im Verband verbunden. Da haben ja nicht wenige doppelte oder dreifache Funktionen. Ich weiß nicht, wie viele mit einem 24-Stunden-Tag hinkommen. Für uns ist fantastisch gewesen, wie sie uns unterstützt haben, unseren Weg gehen zu können. Der ist zwar anders, aber der DFB hat ihn im Wesentlichen mitgetragen, ob das Mayer-Vorfelder oder Zwanziger war. Sie haben uns die Grundlagen gegeben, das alles umzusetzen. Aber wir sehen auch, dass sie genau im Auge haben werden, was passiert bei der WM. Aber das ist auch okay. Damit können wir leben.

Fragen: Michael Rosentritt.

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