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Immer montags werfen wir hier einen Blick auf den Berliner Fußball.

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Berliner Traditionsvereine: Zwischen Nostalgie und Kreisliga-Alltag

Immer montags werfen wir einen Blick auf den Berliner Fußball. Heute geht es um kleine Klubs mit großer Vergangenheit. Was machen ehemalige Schwergewichte des Berliner Fußballs wie der BSV 92, SC Minerva oder Blau-Weiß 90 eigentlich heutzutage?

In der Berlin-Liga zieht momentan der BFC Viktoria 89 einsam seine Kreise an der Tabellenspitze. Mit noch größerem Vorsprung als Borussia Dortmund in der Bundesliga ist den Tempelhofern der Aufstieg in die Oberliga wohl nicht mehr zu nehmen. Für die Fachzeitschrift Fußball-Woche war dies Anlass genug, dem aufstrebenden Traditionsklub unlängst eine Sonderbeilage zu widmen. Denn Viktoria 89, das ist fußball-historisch ein großer Name, nicht nur in Berlin. Zwei Deutsche Meisterschaften stehen in der Vereinshistorie sowie reihenweise Berliner Meistertitel und Pokalsiege.

Nach Jahrzehnten in der Versenkung des Amateurfußballs will der BFC nun also wieder an alte, ruhmreiche Zeiten anknüpfen. In der FuWo-Beilage waren auch alte Tabellen der Berliner Gau-Liga aus den 30er Jahren sowie der Vertragsliga in den 50ern zu bestaunen, in denen Viktoria stets auf den vorderen Plätzen zu finden ist. Damals, vor der Einführung der Bundesliga, war die Vertragsliga die höchstmögliche Spielklasse für Berliner Klubs, der Meister spielte in einer Endrunde um die Deutsche Meisterschaft. Neben dem BFC Viktoria, Hertha BSC und Tennis Borussia waren hier auch eine Reihe von Mannschaften Stammgäste, die heutzutage nur noch für Insider der untersten Spielklassen von Bedeutung sind.

In der Abschlusstabelle der Saison 1955/56 beispielsweise liest sich die Reihenfolge hinter Meister Viktoria so: SC Minerva 93, Berliner SV 92, Spandauer SV, Blau-Weiß 90, SC Union 06. Alle diese Vereine existieren auch heute noch, doch keiner von ihnen spielt höher als in der Landesliga, der siebthöchsten Spielklasse.

Breitensport statt große Titel

Am ärgsten steht es um Minerva 93, die in der Kreisliga C, also ganz unten, derzeit auf dem siebten Tabellenplatz stehen. Dort, wo sonst fast ausschließlich Reservemannschaften oder neu gegründete Klubs spielen. "Wir konzentrieren uns mehr auf die Jugendarbeit und sehen uns in erster Linie als Breitensport-Verein", teilt der Vorsitzende von Minerva, Dietmar Gottemeier, mit.  

"Natürlich haben wir auch für die Männermannschaft lang- und mittelfristige Ziele", erzählt der Minerva-Vorsitzende. "In zwei bis drei Jahren, wenn die A-Jugend in den Herrenbereich hochgerückt ist, könnte mit einer ganz jungen Truppe Marke Eigengewächs vielleicht etwas Neues aufgebaut werden." Ambitionen sind also da, doch gemessen an der Vergangenheit des Klubs mit einer Teilnahme an der Endrunde um die deutsche Meisterschaft 1933, halten sich diese in überschaubaren Grenzen. "Langfristig könnten zwei, drei Aufstiege klappen, bis in die Bezirksliga vielleicht, aber dann geht es ja auch schon wieder mit dem Geld los," beschreibt Gottemeier die Aussichten. Denn schon in der Bezirksliga zahlen einige Vereine kleine Gehälter oder Punktprämien an die Spieler. "Aber vielleicht kann man ja mit ein oder zwei Aufstiegen eine Aufbruchsstimmung erzeugen und damit ein paar Sponsoren anlocken", so der Vorsitzende.

Ziele hat man auch bei den anderen Traditionsklubs, doch auch hier kennt man seine Grenzen. Überregionaler Fußball und große Erfolge sind Utopie und nur mit großen Investitionen und hohem finanziellen Risiko zu erreichen. Für alle, die nicht viel Geld in die Hand nehmen können oder wollen, bleibt die siebtklassige Landesliga wohl das Höchste der Gefühle. Sich dort langfristig zu etablieren ist ein ehrgeiziges, aber noch realistisches Ziel, wie Peter Witte, Vorsitzender des BSV 92 meint.

Die Wilmersdorfer, die ihren letzten Berliner Meistertitel 1954 feierten, spielen heute in der Bezirksliga und stehen aktuell auf einem Aufstiegsplatz. Witte übernahm den Verein vor einigen Jahren hochverschuldet, schreibt inzwischen schwarze Zahlen und hat mit Ex-Bundesliga-Profi Norbert Stolzenburg einen prominenten Trainer an Land gezogen. Ebenfalls in der Bezirksliga findet man den SC Union 06, Vorgänger-Verein des heutigen Zweitligisten 1. FC Union und Deutscher Vize-Meister 1923, sowie Blau-Weiß 90, die 1986/87 für ein Jahr in der Bundesliga spielten. Auch der Spandauer SV wird aller Voraussicht nach im kommenden Jahr in der Bezirksliga mitmischen. Der Klub hat vor wenigen Jahren noch einmal einen Angriff auf die überregionalen Ligen gestartet, ist aber grandios gescheitert und steht inzwischen in der Landesliga vor dem dritten Abstieg in Folge. Ebenfalls in der Landesliga und dort im gesicherten Mittelfeld steht Tasmania, die auch schon Bundesliga-Luft schnupperten, wenn auch extrem erfolglos.

Die letzten Relikte des verblichenen Ruhms

Beim Berliner SV lässt immerhin die Spielstätte noch erahnen, dass einst vor großer Kulisse gekickt wurde. Die Tribüne im Stadion Wilmersdorf, auf der zu Glanzzeiten knapp 20.000 Zuschauer saßen, ist allerdings teilweise zugewachsen, teilweise zum Weinberg umfunktioniert. Laut Witte kommen zu den Heimspielen des BSV um die 40 Zuschauer im Schnitt. Auch bei Union 06 an der Lehrter Straße liegt der Platz im Kessel des ehemaligen, inzwischen weitgehend zugewucherten Poststadions, das mal bis zu 45.000 Zuschauern Platz bot.

Wenn man heute ein Spiel eines dieser Vereine besucht, weist sonst nicht mehr viel auf die glorreiche Vergangenheit hin, zumindest auf den ersten Blick. Doch in Feinheiten erkennt man die Tradition: Zum Beispiel an der Handvoll älterer Herrschaften am Spielfeldrand, die die großen Tage miterlebt, oft auch mitgestaltet haben und Sätze gerne mit "Wir, früher…" einleiten. Diese Erinnerungen, sowie üppige Trophäen- und Bildersammlungen in den Vereinsheimen sind die letzten Relikte des längst verblichenen Ruhms.

Dietmar Gottemeier ist bei Minerva durchaus bemüht, die Tradition am Leben zu erhalten und an die jungen Leute im Verein weiterzugeben. Das 1993 angefertigte Vereinsheft zum hundertjährigen Jubiläum hat er eigens nachdrucken lassen und überreicht es gerne mal Neu-Mitgliedern zur Lektüre. "Die sind dann oft ganz ehrfurchtsvoll, weil sie gar nicht wussten dass Minerva eine solche Geschichte hat", so der Vorsitzende.

Peter Witte dagegen ist sich darüber im Klaren, dass das alles heute nicht mehr viel bedeutet. "Die Vergangenheit war schön und toll, doch in dieser schnelllebigen Zeit interessiert heute niemanden mehr, was du gestern erreicht hast. Man kann gerne bei einer Tasse Kaffee mal in Nostalgie schwelgen, aber das war es dann auch. Heutzutage haben wir als Verein ganz andere Sorgen".

Die Geschichten der Vereine mögen sehr unterschiedlich sein, die Gründe für den Niedergang sind fast immer die gleichen: In erster Linie ist es das Geld. "Früher gab es außerdem viel weniger Vereine in Berlin, heute nehmen sich alle gegenseitig die Luft zum Atmen weg," erklärt Peter Witte. Dadurch sei es wesentlich schwieriger als früher, Mitglieder und Sponsoren an Land zu ziehen. Manchmal liegt gerade in der Tradition auch die größte Hürde, wenn sie dringend nötigen Modernisierungen in der Vereinsstruktur im Wege steht und die Geschicke von altgedienten Ehrenmitgliedern geleitet werden, die den vergangenen Zeiten anhaften und nach dem Motto "Das haben wir schon immer so gemacht" vorgehen.

Aussterben tun diese Dinosaurier des Berliner Fußballs jedoch nicht, sie haben sich größtenteils neu definiert, als Breitensportvereine getragen von ehrenamtlichem Engagement mit viel Jugend- und Sozialarbeit und mittelmäßig ambitioniertem Amateurfußball. In diesem Alltag bleibt nicht mehr viel Zeit, um von ruhmreicher Vergangenheit und großen Titeln zu träumen.

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