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Trainingsauftakt unter Lothar Matthäus in Netanja

© dpa

Besuch bei Matthäus: Schalom, Lothar

Der Trainer Matthäus ist in Israel gelandet. Also im Fußball ganz unten. Der Mensch Matthäus genießt und entdeckt sich neu. Tagesspiegel-Reporter Helmut Schümann hat ihn bei Maccabi Netanya besucht.

Es ist Freitag, kurz vor 17 Uhr, Lothar Matthäus erscheint vor dem maroden Stadion zum Training seines Vereins Maccabi Netanya als Sommerfrischler: Weiße weite Hose, blaues weites Hemd, die Sonnenbrille steckt im Haar, an den Füßen trägt Matthäus ein paar Schlappen. Und auf die Frage, warum denn seine Spieler, auch die jüdischen, heute an Sabbat arbeiten dürften, antwortet er mit einem klassischen Matthäus: „Weil ich es ihnen erlaube.“ Aha, wenn Lothar spricht, dann hat auch Jahve zu schweigen. Nicht wahr, so kennt man ihn: Hier Lothar Matthäus, der Weltstar, dort die Welt, und die kreist um ihn.

Matthäus ist nun also in Israel gestrandet, nach mehr oder weniger erfolgreichen Missionen als Trainer in Wien und Belgrad, bei Ungarns Nationalmannschaft, in Brasilien beim Klub Atletico Paranaense und noch einmal in Österreich bei Red Bull Salzburg. Israel, nicht in der Bundesliga, wo er doch so gerne anlegen würde, die ihn immer noch nicht haben will. Es ist allerdings, das wird beim Besuch deutlich, völlig offen, ob der Nahe Osten ihn tatsächlich weiter von der Heimat entfernt.

Israel und Matthäus - das ist, nun ja, heikel

Der Reporter begleitet Lothar Matthäus nun im zwanzigsten Jahr durch seine Karriere, beim FC Bayern München, in der Nationalmannschaft. Zu behaupten, dass diese berufsbedingte Verbindung jemals harmonisch war, wäre eine Lüge. Der Fußballspieler ist dem Journalisten zunehmend mit Misstrauen begegnet, das ist auch jetzt und hier vor dem Stadion zu spüren. Der Journalist ist dem Menschen Matthäus mit zunehmender Skepsis begegnet, auch jetzt, auch auf dieser Reise ist der Zweifel über die Ernsthaftigkeit des Trainers Matthäus mit im Gepäck und das feste Urteil, dass Israel und Matthäus, nun ja, heikel sind auch.

Gestrandet ist im Übrigen keineswegs hämisch gemeint, es ist nur sehr treffend. Matthäus bewohnt in Herzlyya, ein paar Autominuten südlich Netanyas und ebenfalls ein paar Autominuten nördlich von Tel Aviv, ein Haus mit Blick aufs Mittelmeer. Später wird er noch erzählen, dass er mitunter durchaus auf einem Liegestuhl am Strand, mit den Füßen im Sand, sein Trainingsprogramm erarbeitet. Und das alles passt doch wunderbar ins Klischee und ins Bild, das die Öffentlichkeit, die veröffentlichte Meinung und auch der Reporter sich machten, als vor sechs Monaten bekannt wurde, dass sich Matthäus nach Israel abgesetzt hat, in den drittklassigen Fußball. Man kann all das, was damals höhnisch, schadenfroh oder auch mitleidig kommentiert wurde, kurz zusammenfassen: Seriös, so stand es gut lesbar zwischen den Zeilen, geht anders.

Der gesellschaftliche Lothar

Punktgenau lieferte der gesellschaftliche Lothar das entsprechende Futter: Nach dem Scheitern auch der dritten Ehe muss die neue Frau an seiner Seite erst einmal die Schule beenden, sie ist im Vergleich zu Matthäus mit seinen 47 Jahren mit ihren 20 Jahren doch noch sehr jugendlich. Als die Reifeprüfung vollbracht war, musste noch eine weitere Vorbereitung aufs Leben getroffen werden, und Lothar zahlte ihr – auch dieses Privatissimum stand genüsslich in den Blättern – die Brustvergrößerung. Fettnapf-Lothar in Israel, der Mann mit einer der höchsten Peinlichkeits-Quoten im deutschen Fußball im Sensibilität erfordernden Terrain, da fürchtete Uli Hoeneß, der Manager des FC Bayern München und zugegeben nicht gerade Intimus von Matthäus, baldige diplomatische Verwicklungen und empfahl Kanzlerin Angela Merkel schon mal vorauseilend die Installation eines Krisenstabes.

Erst mal aber steht das vermeintliche Sicherheitsrisiko auf dem staubigen Parkplatz und erzählt nach seinem kleinen Scherzlein, was es auf sich hat mit seiner Allmacht. Die Sonne brennt immer noch erbarmungslos runter, das Thermometer behauptet, es habe 34 Grad, gefühlt sind es zehn mehr, „und das ist viel zu heiß, um zu trainieren“, sagt Matthäus, „aber wenn wir später anfangen, kommen die Spieler nicht mehr rechtzeitig zum Sonnenuntergang zu ihren Familien nach Hause, dann nämlich erst fängt Sabbat an. Sagt Jahve.“ Es ist zumindest neu, dass sich Lothar Matthäus gelassen und entspannt irgendwelchen Mächten beugt. Ein gerne zitierter Matthäus-Klassiker vergangener Tage geht so: „Ein Lothar Matthäus lässt sich nichts vorschreiben, ein Lothar Matthäus bestimmt selber über sein Schicksal.“

"Nicht erschrecken", sagt Matthäus

Das Schicksal sieht hier am alten Stadion allerdings sehr, sehr baufällig aus. In Wahrheit, zumindest in der Wahrheit der Welten, in denen es sich Lothar Matthäus bislang wohlergehen hat lassen, würde hier nur noch die Abrissbirne helfen. Der Verein hat ein neues Stadion gebaut, vor den Toren der Stadt, aber das wird leider erst im nächsten Jahr fertig. Auf dem Weg zu den Kabinen sagt Matthäus: „Nicht erschrecken.“ Nein, man muss nicht den Vergleich zum Zen-Zentrum des FC Bayern München bemühen, es reicht schon die Vorstellung einer beliebigen deutschen Bezirkssportanlage, um zu sehen, dass Lothar Matthäus sein Schicksal in diesen kargen, finsteren und dunklen Räumen schon arg strapaziert hat. Sein Arbeitszimmer zum Beispiel ist ein fensterloses Kabuff, ein Schreibtisch, ein Stuhl, ein Spind, drei abgewetzte Sessel für die Assistenztrainer, an den Wänden drei Fotos aus den siebziger Jahren, als der Verein fünf Meisterschaften gewann.

„Aber der Geruch“, sagt Lothar Matthäus und atmet tief ein, „mhmm, dieser Geruch, das ist es doch.“ In der Tat ist der Geruch unüberriechbar, weil er nämlich kein Geruch ist, sondern Gestank. Ein olfaktorisches Gemisch aus Männerschweiß, gemähtem Gras, Turnbeuteln, irgendwo wird wohl auch noch ein Bohnerbesen rumstehen, der Bohnerwachs auf den Linoleumböden ist auch unüberriechbar. „Der Geruch meiner Anfänge“, sagt Matthäus, er hat in seiner Laufbahn schon viel gesagt, oft auch viel Unsinn, oft nur geplappert, aber die leuchtenden Augen und die Begeisterung, mit der er diesen, seinen, bitteschön, Geruch aufsaugt, die sind doch sehr echt.

Um zu ahnen, warum ein bisschen Gestank in heruntergekommenen Katakomben einem Weltstar, der alles erreicht hat, was man als Fußballspieler erreichen kann, der in den teuersten Hotels des Globus residiert hat, in München, Mailand, New York in den besten Wohngegenden lebte, dem Geld schon seit Jahrzehnten keine Sorgen mehr bereitet, das Herz wärmt, muss man wohl tatsächlich kurz auf den Anfang schauen.

Bertis Blutgrätsche

17 Jahre alt war Lothar Matthäus, als er das Haus der Eltern in Herzogenaurach verließ, um erst einmal bei Borussia Mönchengladbach die Welt des Fußballs umzukrempeln. Es gibt unter Profis so eine Art Initiationsritus, den jungen Knaben wird im Training erst einmal mittels Blutgrätsche gezeigt, wer Herr im Hause ist. Bei der Borussia übernahm der alternde Star Berti Vogts die rustikale Einführung und grätschte den Jüngling mit Wucht ins Gras. Der Eleve, so die ungeschriebenen Gesetze der Branche, hat das Ritual klaglos und widerspruchslos hinzunehmen. Im Falle Matthäus dauerte die Demut ein paar Sekunden, so lange bis die Gelegenheit günstig war, es Vogts heimzuzahlen. Der spätere Bundestrainer musste daraufhin minutenlang von den Ärzten behandelt werden, stöhnte aber noch im Liegen: „Der da wird ein Großer.“ Das wurde Matthäus, auf dem Rasen einer der Größten überhaupt, und er lebte von da an in einer Parallelwelt, der Welt eines Profis, eines Stars, dem alles nachgetragen wird, der sich irgendwann für wichtig und bedeutsam hält, weil ihm das auch täglich mehrfach gesagt wird.

Lothar Matthäus sitzt an seinem Schreibtisch, in diesem dunklen Loch, er erzählt von seiner Arbeit, den eher lausigen Bedingungen, der Arbeit mit seinen Spielern, von denen nicht einer auch nur ansatzweise kann, was er konnte, er redet sich in Emphase, „wissen Sie, denen hat zum Beispiel noch nie jemand gesagt, dass sie das Fußgelenk beim Pass nicht locker lassen sollen, und jetzt wissen sie es, und jetzt freuen sie sich, dass ihre Pässe auch mal ankommen, ich mache mit denen Grundlagentraining, Schussübungen, taktische Übungen, alles von Anfang an, wie früher …“

„Und Sie sind restlos begeistert!“

„Na ja“, sagt Matthäus, „restlos nicht, aber es macht schon sehr viel Spaß.“

Die Mission des Daniel Jammer

Bei Daniel Jammer steigert sich der Spaß des Lothar Matthäus ins Unermessliche. Jammer, ein Frankfurter Geschäftsmann, kaufte Maccabi Netanya vor zwei Jahren für eine Million Euro und zog mitsamt Familie von Deutschland aus und von seinem Geschäftssitz auf Ibiza an die israelische Mittelmeerküste ins Heimatland seiner Eltern, Schwiegereltern und Frau. Und er pumpt weiter viel Geld in den Klub. Warum er das tut, wird nicht ganz klar. Jammer fährt Hummer, was eigentlich schon eine Charaktereigenschaft ist. Und er sagt Sachen über seine Motive, die sind so schön und so edel und gut, dass man ihn – trotz Hummer – für die Reinkarnation von Albert Schweitzer halten müsste. Er sagt zum Beispiel, dass er Brückenschlagen will zwischen Israel und Deutschland, dass er eine glückliche und luxuriöse Kindheit hatte und immer vom Glück begünstigt war und dass er nun Gutes tun und etwas von diesem Glück zurückgeben möchte, „jetzt ist die Zeit reif für das Gute“. Mag alles sein, vielleicht will er auch nur seinen Spaß haben als glühender Fußballfan, den die Zeitläufte aus irgendwelchen Gründen in die Fußball-Diaspora getrieben haben. Was auch immer, und vielleicht sind Hummer-Vorurteile ebenso zu revidieren wie Matthäus-Vorurteile, Gutes für den Verein tut Jammer allemal.

Inzwischen verfügt Maccabi über zehn Jugendteams, vor seinem Engagement gab es nicht eins, unterhält eine Sportakademie vorwiegend für Kinder aus prekären Verhältnissen, und weil die Kinder Trainingsmöglichkeiten nur weit außerhalb der Stadt haben, hat Jammer auch noch einen Bus-Shuttle eingerichtet. Ja, und Lothar Matthäus engagiert. „Was der Lothar hier leistet, ist so unglaublich viel, der hat so viel bekommen, der gibt jetzt einen Teil zurück, der Lothar ist ein Brückenbauer“, so Jammer.

Der ernsthafte Matthäus

„Ich bin ein Trainer“, sagt Lothar Matthäus, „der hier etwas aufbauen will, so wie ich es immer wollte.“ Er ist, man kann das beim Training beobachten, ein sehr guter Trainer, sehr engagiert, sehr einfallsreich, sehr ernsthaft. Matthäus spricht inzwischen leidlich Englisch, mit einem vielleicht noch ein wenig erweiterbaren Wortschatz, dafür aber fränkischem Akzent, was zunächst lustig klingt, wenn er seinen Spielern zuruft: „You must contrrrol the ball!“ Oder wenn er nach einem Auswärtssieg und der Eroberung der Tabellenführung vor die Kameras tritt und sich in Selbstkritik übt, „we can betterrrr play, but we want win and we won“. Vor allen Dingen aber fällt auf, dass Lothar Matthäus, ob auf Deutsch oder Englisch, seine alte Phrasendreschmaschine abgestellt hat.

Über seine Qualitäten als Trainer gibt es auch in der Heimat keine Zweifel. Selbst Kritiker Uli Hoeneß bescheinigte ihm kürzlich, „alles über Fußball zu wissen“. Es hat aber in acht Trainerjahren erst zwei Anfragen gegeben, eine aus Nürnberg, eine von der Eintracht aus Frankfurt, angeblich sollen Fanproteste seine Verpflichtung verhindert haben.

"Ich mag dieses Land, seine Menschen, das Wetter"

Am Tag nach dem Auswärtssieg über Sachnin sitzt Matthäus am Strand von Herzlyya, er ist gut gelaunt, er schaut aufs Meer, er sieht ein Segelboot, den blauen Himmel, „ich habe es doch gut getroffen, ich habe viele Freunde hier, ich mag dieses Land, seine Menschen, das Wetter …“.

„In Deutschland, in der Bundesliga, ist es kalt und es regnet.“

„Aber natürlich bleibt die Bundesliga mein Traum, mein Ziel“, sagt Matthäus.

Es war nur in der Vergangenheit allzu oft so, dass Matthäus einerseits mit seiner offenen Art, andererseits auch mit seinen Lautsprechereien und vor allen Dingen mit seiner großen Affinität zu den boulevardesken Schlagzeilen viel von dem zerschlagen hat, was er sich als Spieler aufgebaut hatte. Er ist zwar bei weitem nicht der einzige, der mitunter schroff ist oder war, der Affären hatte oder großmäulig war. Aber vielleicht braucht der Fußball immer mal wieder einen, der die Fehler der Gesamtheit auf sich zieht und alleine zu schultern hat.

Der Kölner Torwart Harald Toni Schumacher erlebte Ähnliches 1987, als er in seinem Buch „Anpfiff“ Dopingpraktiken in der Liga anprangerte und deshalb für die gesamte Zunft in Ungnade fiel. Oder Christoph Daum, der koksende Trainer, der dann auch für alle Fehltritte der Branche büßte. Erst nach jahrelangem läuterndem Auslandsaufenthalt durften beide wieder heimkehren und reüssieren. Und vielleicht verhält es sich mit Lothar Matthäus ebenso. Dann wäre der Schritt nach Israel, für den Mut, Leidenschaft und Leidensfähigkeit erforderlich waren, gewiss einer der wichtigeren Schritte im Karriereplan von Lothar Matthäus gewesen. „Ich bin ruhiger geworden, ich gehe auf die 50 zu“, sagt er. Und „ich traue mir die Bundesliga zu.“ Auf zwei Jahre erst einmal ist sein Job in Netanya begrenzt, ein wenig Zeit hat die Liga also noch. Und dann sollte Lothar Matthäus genug auf Wanderschaft gewesen sein.

Epilog, gleich mehrfach

Zwei Szenen gilt es noch nachzutragen, weil sie in den Welten spielen, in denen sich Matthäus bewegt, und wahrscheinlich muss man ihn mit beiden nehmen. Die eine Szene spielt sich im Stadion von Haifa ab, wo Netanya sein Auswärtsspiel gegen Sachnin gewann. Matthäus’ junge Freundin war natürlich auch da, und wichtig ist noch zu erwähnen, dass es sich bei dem Klub aus Sachnin um einen arabischen Klub handelt mit arabischen Fans. Die Freundin saß also auf der Tribüne, in Hot Pants, die von der Größe eher einem Gürtel glichen als Hosen. Dazu ein T- Shirt, so weit ausgeschnitten, dass die Fans aus Sachnin in der zweiten Halbzeit den einen Ball auf dem Rasen vergaßen und sich die Augen aus dem Kopf stierten.

Die zweite Szene zeigt Lothar Matthäus am Ende des Trainings. Da steht er an der Seitenauslinie und im Tor steht ein Helfer und sammelt mit einem Netz die Bälle ein, das Loch des Netzes ist etwa so groß wie ein Basketballkorb. „Hold the net“, ruft Matthäus, schaut auf, nimmt einen Schritt Anlauf und versenkt den Ball über 50 Meter ohne Randberührung hinweg im Netz.

Noch ein Nachtrag, das Verhältnis des Reporters zu Matthäus betreffend. „Kommen Sie mal wieder“, sagt Matthäus beim Abschied. Gerne.

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