zum Hauptinhalt

Sport: „Bevor sie ausscheiden, sind ihre Augen wie tot“

Pepe Danquart, Regisseur des Tour-de-France-Films „Höllentour“, über die Sucht der Radprofis, an ihre Schmerzgrenzen zu gehen

Herr Danquart, Sie haben mit „Höllentour“ einen beeindruckenden Film über die Tour de France gedreht. Es gibt darin eine Szene: Der Radfahrer Erik Zabel liegt auf der Massagebank und sinniert: „Du betest, dass der liebe Gott dir noch ein weiteres Jahr gibt, damit du die Tour fahren kannst. Du wirst süchtig danach.“ Süchtig. Haben Sie damals begriffen, was er damit gemeint hat?

Ja, klar. Ich kenne das doch, diese Sucht. Ich war mal Bergsteiger. Da musstest du die Wand hoch. Du bist ausgeliefert. Du kannst nicht einfach wieder runterklettern. Und wenn du da so hängst, fragst du dich: Hey, verdammt, warum tue ich mir das an? Aber wenn du oben stehst, spürst du ein Glücksgefühl, wie du es noch nie hattest in deinem Leben. Das macht süchtig. So ist es auch bei der Tour de France.

Sind Sie auch süchtig nach dem Radsport geworden? Sie verfolgen die Tour in diesem Jahr vor dem Fernseher. Spüren Sie Entzugserscheinungen?

Ich sehe die Tour jetzt anders als früher. Ich rede auch viel über die Tour, allein schon wegen des Films. Klar, das Fieber hat mich gepackt. Deshalb setze ich mich auch am kommenden Dienstag um sechs in den Flieger, damit ich um zehn Uhr in der Nähe von Genf bin. Dort beginnt die Etappe an diesem Tag.

Wenn Sie die Tour jetzt als Beobachter verfolgen: Sehen Sie durch Ihre Erfahrungen mehr als der normale Zuschauer, was in den Fahrern vorgeht?

Ich bilde es mir zumindest sein.

Sie haben als Bergsteiger Glücksgefühle gespürt. Bei der Tour ist der Preis dafür, diese Euphorie zu erleben, allerdings größer. Die Fahrer müssen viel mehr Qualen durchstehen.

Natürlich, aber genau das ist auch der Reiz. Radfahrer tasten sich ja langsam an ihre Schmerzgrenze heran. Sie richten schon als Jugendliche ihr Leben aufs Radfahren aus. Da lernen sie Schmerzen und Qualen kennen, das ist ja nicht ohne. Aber sie fühlen sich anschließend als etwas Besonderes. Und dann dehnen sie diese Schmerzgrenze immer weiter aus. immer weiter und noch ein bisschen mehr. Diese Suche nach der endgültigen Grenze ist der Reiz. Wenn man wieder mal eine scheinbare Grenze überschritten hat, das ist das Glücksgefühl. Aber das kannst du einem, der so etwas nicht kennt, kaum erklären. Das verstehen nur Leute, die selbst gelitten haben.

Aber zur Schmerzgrenze muss auch der Erfolg kommen, oder?

Logisch. Erik Zabel ist ja nicht bloß auf die Fresse gefallen, er stand auch oft genug auf dem Podium. Das ist so ein Glücksgefühl. Du explodierst nach 200 Kilometern auf den letzten zweihundert Metern. Dem Zabel fallen da fast die Augen raus vor Anstrengung.

Muss sich dann einer wie Rolf Aldag mit dem Überwinden der Schmerzgrenze als Erfolg zufrieden geben? Der ist ja nur Wasserträger und zieht für Zabel den Spurt an, bevor er in der Masse verschwindet.

Er ist Teil des Erfolgs von Zabel. Der Rolf hat mir mal erzählt, dass es für ihn etwas Grandioses ist, wenn er für Erik den Spurt angezogen hat und dann vorne die erhobenen Hände von ihm sieht. Dafür hat es sich gelohnt, dass ihm fast schwarz vor Augen geworden ist, wenn er den Spurt anzieht. Der bricht dann mit letzter Kraft zur Seite weg und kommt als 78. ins Ziel. Das ist ihm egal. Es hat auch erzählt, dass es für ihn ein Riesengefühl ist, wenn er in diesem Jahr Ullrich gut über die Berge zieht.

So entstehen sportliche Männerfreundschaften.

Ja, der Erik hat mit Rolf Aldag diese ganzen Qualen durchgestanden. Das hat sie zusammengeschweißt. Diese Erfahrungen würdest du ohne diese Schinderei bei der Tour nie machen. Dieser Mix aus Gefühlen und Erfahrungen, das ist die Sucht.

Erik Zabel geht an seine Leistungsgrenze, wenn er mit 70 km/h sprintet. Aber an den folgenden Tagen quält sich der Sprinter auch über die Berge. Er sagt ja sehr plastisch, was das für ihn bedeutet: „Die ersten beiden Berge schaffe ich noch, beim dritten hilft nur beten.“ Gehört das auch zur Sucht?

Im gewisser Weise schon. Das unterscheidet ihn von Petacchi und Cipollini. Die gewinnen vier, fünf Mal in ihrer Paradedisziplin, aber sie wissen auch: Im Berg sind wir kaputt. Und leiden wollen sie nicht. Also steigen sie freiwillig aus. Aber Zabel sagt: Ich will in Paris ankommen. Jeder, der in Paris ankommt, ist ein Sieger, so muss man das sehen. Und diesen Sieg kann ihm niemand mehr nehmen.

Und dann hängt er im Film am dritten Berg, an dem er beten muss, um rüberzukommen. Wie sieht er da aus?

Er cremt sich seine Wunden ein, die er bei dem Sturz ein paar Tage zuvor erlitten hat. Und er fragt sich: Warum bin ich nicht Surfer geworden? Er hat Angst, man sieht das. Er sitzt seit vier, fünf Stunden auf dem Sattel, was glauben Sie, was da einem alles durch den Kopf geht. Und dann plötzlich haut er den Satz raus: „Oh Gott, oh Gott, heute ist Alarm.“

Und im Nacken immer der Besenwagen. Der sammelt die Profis auf, die zu langsam sind oder aufgeben müssen.

Der Besenwagen motiviert eher. Weil er so schrecklich ist. Für die Fahrer ist der Besenwagen wie eine Pistole, die man ihnen an den Kopf hält. Wenn du in den Bergen abfällst und denkst, verdammt, ich komme vielleicht nicht nach Paris, dann steigerst du dich noch, irgendwie. Das ist ja auch dieses Suchtgefühl. Du musst nach Paris, du fühlst dich unvergleichlich, wenn du es geschafft hast. Du quälst dich doch nicht drei Wochen durch das größte Stadion der Welt, quer durch Frankreich, um dann aufzugeben. Die empfinden das als persönliche Schmach, wenn sie aufgeben würden. Das gibt sich keiner.

Hat Ihnen Zabel mal erzählt, ob er einen Alptraum hatte: er beim Einstieg in den Besenwagen? Und wie groß der Zusammenbruch wäre, wenn er das real erlebte?

Erzählt hat er nichts davon. Das muss er auch gar nicht. Man muss ja nur seine Augen betrachten. Da steht die Antwort. Im Film gibt es die Szene, in der er sich mit einer Bürste die Wunden aufreißt, die er bei einem Sturz erlitten hatte. Er wollte, dass die von innen ausbluten. Da hatte er Angst, dass er aussteigen muss. Als er sich da bürstet, bleibt die Kamera ganz lange auf seinem Gesicht. 90 Sekunden lang, er schweigt nur. Und diese 90 Sekunden erzählen mehr über seine Angst und mehr über seine Gefühle, als wenn er einen Roman erzählt hätte.

Andreas Klöden fährt in diesem Jahr ausgezeichnet. Aber 2003 hat er es nicht geschafft. Er musste aufgeben, mit einem gebrochenen Steißbein.

Ja, da sieht man ganz deutlich, wie brutal das für ihn war. Der hing erst über der Leitplanke, völlig fertig. Dann murmelt er so vor sich hin: „Ich würde mir am liebsten eine Mütze über den Kopf ziehen, damit mich niemand sieht.“

Nach einem Sturz fuhr Klöden beim Sprint acht Etappen lang mit einem gebrochenen Steißbein. In diesem Jahr quälte sich Matthias Kessler vom T-Mobile-Team noch 60 Kilometer trotz gebrochener Rippe und teilweise eingefallenem Lungenflügel ins Ziel. Rolf Aldag fährt bei der aktuellen Tour trotz diverser Prellungen weiter, obwohl er schwer gestürzt ist. Ist das Masochismus, oder hat das auch etwas mit Sucht zu tun?

Die Jungs haben einfach zu hart auf diese Tour hingearbeitet. Aufgeben, das hieße, dass die Arbeit eines Jahres kaputt wäre. Und das kann einfach nicht sein. Punkt. Tyler Hamilton ist ja auch weitergefahren, obwohl er sich das Schlüsselbein gebrochen hatte. Gut, gestern ist er bei der Tour ausgestiegen. Er hatte nach seinem Sturz wohl enorme Rückenschmerzen. Es gibt Momente, da musst du vor diesen Schmerzen einfach kapitulieren.

Klöden redete mal über seine Schmerzen, bevor er ausgestiegen ist.

Ja, aber für das entscheidende Detail muss man genau hinschauen. Ich frage ihn: „Wie geht’s?“ Und er: „Ach Scheiße, ich habe eine schmerzstillende Spritze bekommen, trotzdem kann ich kaum noch im Stehen fahren. Aber wenn ich heute durchkomme, dann wird es besser. Morgen sind viele Flachstücke dabei, da läuft’s vielleicht besser.“ Aber du siehst in seinen Augen, dass er fertig ist, wie tot. Er hat einen ganz gebrochenen Blick.

Waren Sie deshalb am nächsten Tag die ganze Zeit am Besenwagen?

Ich habe meinem Kameramann gesagt: Bleibt am Besenwagen, heute scheidet der Andreas Klöden aus. Du siehst es an seinen Augen.

Wie geht dann so einer, der schon vor dem Start am Ende ist, in die Etappe?

Er hatte seine Hände schon am Morgen immer am Steißbein, er wurde immer ruhiger, seine Fröhlichkeit war weg. Stattdessen siehst du seine Angst. Er weiß, welche Schmerzen ihn erwarten, er weiß, dass er sie besiegen muss. Und das ist brutal. Das ist so, als ob du in deinem Schlafsack eine Ameisenkolonie hättest. Morgens bist du völlig zerbissen. Aber am Abend musst du wieder reinkriechen. Mit dieser Angst gehst du ins Rennen, und natürlich macht dich das noch mehr kaputt. Wenn der Kopf nicht mitspielt, spielt gar nichts mehr mit.

Wie sah kurz vor der Aufgabe aus, zwei Kilometer vor dem Aus?

Er fragte zweimal den Arzt, ob der ihm etwas gegen die Schmerzen geben könne. Aber der konnte ihm nicht helfen. Und später hat er mir erzählt, wie das war. Er ist ganz allein hinten gefahren, das war brutal. Und allein schaffst du das nicht. Du brauchst jemanden, der mit dir fährt, der dich mitzieht.

Und wie lenken sich dann die Profis von den Schmerzen ab?

Wenn sie im Pulk sind, reden sie miteinander. Wenn ein paar Fahrer zum Beispiel Rolf Aldag sehen, fahren sie neben ihm und singen „Movie Star, movie star“, weil sie wissen, dass er mit „Höllentour“ in den Kinos ist. Oder sie sagen: „Du könntest dir auch mal wieder eine neue Unterhose kaufen.“ Das bezieht sich auf die Szene, in der er sich in der Badewanne seine Beine rasiert und nur eine Unterhose trägt. Irgendeinen Quatsch, über den sie lachen können. Aber wenn sie allein sind, geht das nicht. Dann denken sie nach: Wenn ich über diesem Berg bin, habe ich es geschafft, und wenn ich über den nächsten auch noch bin, habe ich wieder etwas geschafft und so weiter.

Irgendwann spricht Aldag zu sich selber und sagt plötzlich: „Du erzählst dir Geschichten, um dich zu motivieren, und diese Geschichten musst du auch noch glauben.“ Welche Rolle spielt Autosuggestion bei der Tour?

Eine große. Jeder erzählt sich Geschichten, um neue Moral zu bekommen.

Aldag erzählt auch: „Es ist nicht wirklich schlau, mit 95 Stundenkilometern einen Berg runterzurasen.“ Bedeutsam ist, dass er das zwischen zwei Etappen erzählt. Es hätte ja sein können, dass es plötzlich klick macht und er vor seiner eigenen Geschichte erschrickt. So eine Höllenabfahrt erwartete ihn vielleicht am nächsten Tag.

Aber es macht nicht klick, nie. Alle haben mir gesagt: Du darfst keine Angst haben. Wenn du Angst hast, hast du schon verloren. Du rast ja letztlich doch auf der letzten Rille runter, obwohl das irrsinnig gefährlich ist. In diesem Moment sind die hoch konzentriert. Erst wenn sie wieder den Berg hochfahren, wird ihnen klar: Oh Mann, wenn du dich da verbremst hättest oder wenn da ein Reifen geplatzt wäre, hätte es übel ausgehen können. Aber das verdrängst du sofort wieder, du musst ja wieder treten. All das gehört zur Psyche der Tour de France, und das erklärt vielleicht auch diese Sucht.

Aber manchmal passiert etwas. Joseba Beloki ist 2003 schwer gestürzt. Wie haben die Profis diesen Sturz verarbeitet?

An diesem Tag hat Winokurow auch seine erste Etappe bei der Tour überhaupt gewonnen, und Andreas Klöden ist ausgestiegen. Deshalb lagen an diesem Tag Glück und Leid zusammen. Aber der Sturz hat schon alle mitgenommen. Die wissen, morgen kann es mich erwischen. Aber das verdrängen sie wieder. Wer sich darüber ernsthaft Gedanken macht, steigt nie wieder aufs Rad. Aber am Abend hat man darüber geredet, klar.

Wie hat man gesprochen?

Die haben sich im Fernsehen die Bilder angeschaut, die wurden ja auch oft genug wiederholt.

Haben Sie einen dabei beobachtet, wie er sich abgewandt hat?

Nein, das nicht. Aber der Andreas Klöden hat mir mal erzählt: Ich hätte die Bilder meines Sturzes bei der Tour besser nicht gesehen. Er ist ja mit 50 km/h beim Sprint in die Absperrgitter gerast, da hätte er sich den Schädel brechen können. Danach sagte er: Jetzt könnte es sein, dass beim nächsten Sprint diese Bilder wieder hochkommen. Das ist ganz seltsam. Beim Sturz von anderen hat er sich nichts gedacht. Das ist sogar einer der Reize dieser Tour. Du willst derjenige sein, den es nicht erwischt. Das ist auch ein Kitzel und eine Hoffnung. Aber wenn du stürzt und dann auch noch die Bilder davon siehst, bist du geschockt.

Das Gespräch führten Frank Bachner und Mathias Klappenbach.

-

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false