zum Hauptinhalt
Oder. Oder. Oder. Unser Autor findet viele Gründe, ab heute Nacht American Football zu schauen.

© AFP

Big Four - Die US-Sport-Kolumne: X-Faktor

Heute Nacht beginnt sie endlich: die neue Spielzeit im US-amerikanischen Football. Unser Autor und Allesgucker hat sich bereits seinen Wecker gestellt und freut sich wie immer auf die spannendste Saison aller Zeiten. Eine Hommage.

Wenn es um Mannschaftssportarten geht, dann habe ich, so viel Ehrlichkeit muss sein, einen ziemlich ausgeprägten Schaden. Dank meines Nachnamens bietet sich in diesem Zusammenhang sogar ein schlechtes Wortspiel an, aber dafür haben bereits zahlreiche Kollegen zahlreiche Münzen in unsere Schlechte-Witze-Kasse eingezahlt. Also lassen wir das lieber.

Jedenfalls gibt es wenige Teamsportarten, die mich so gar nicht tangieren. Als ehemaliger Aktiver, Fan des SC Magdeburg und Berichterstatter über die Füchse Berlin ist Handball natürlich meine Sportart Nummer eins. Als Kind aus dem Brandenburgischen habe ich mir zudem die Vorliebe für ein Spiel bewahrt, das sich damals in der Nachwendezeit energisch seinen Weg über den Atlantik in die neuen Bundesländer bahnte. Mein Basketball-Faible beruht auf frühen Kindheits- und Jugenderinnerungen und der womöglich glorreichsten Zeit der US-amerikanischen National Basketball Association (NBA). Wie konnte man Michael Jordan eigentlich nicht zusehen, anhimmeln, zujubeln? Darüber hinaus gehe ich zwei, drei Mal pro Saison zu den Eisbären oder anderen Berliner Vereinen und bringe ein solides Fußball-Interesse mit, ohne das man mittlerweile ja kaum mehr sportredaktionell arbeiten kann.

Irrationalität, Unberechenbarkeit, Drama

All diesen Interessen zum Trotz ist die persönliche Vorfreude auf die neue Spielzeit aber in keinem Teamsport so ausgeprägt wie im American Football. Wenn die Denver Broncos und Titelverteidiger Baltimore Ravens in der Nacht zu Freitag (2.30 Uhr/live beim Bezahlsender Sport1US) die Saison in der National Football League (NFL) eröffnen, wird mein Wecker deshalb natürlich pünktlich zur allerunchristlichsten Zeit klingeln, falls ich vorher überhaupt die Augen zumache. Beziehungsweise zumachen kann. Nicht wenige Freunde belächeln mich deswegen. Ist mir aber auch egal. Denn die meisten von ihnen, nennen wir sie mal: die Fußball-Hardliner, wissen gar nicht, was ihnen entgeht. Von dutzenden Werbeblöcken vielleicht mal abgesehen.

Man mag vom durchkommerzialisierten amerikanischen Sport- und Fernsehsystem halten, was man will. Aber eines muss man den großen Ligen und insbesondere der NFL lassen: seit Beginn meiner Zuschauerkarriere vor etwa zehn Jahren hat sich die Liga in Sachen Spannung Jahr für Jahr selbst übertroffen. Und genau darum geht es mir als Sportfan doch: Irrationalität, Unberechenbarkeit, Drama. Diese Parameter fehlen in den Ligen der populären europäischen Mannschaftsportarten allerdings.

Nehmen wir mal Fußball: In der spanischen Primera Division hießen die Meister seit der Saison 2003/2004 (FC Valencia) immer FC Barcelona oder Real Madrid. Genau wie in der Serie A: Seit 2002 kam Italiens Meister ausnahmslos aus Turin oder Mailand. Auch die Bundesliga wird ihren Reiz auf Jahre hinaus vor allem aus dem Duell zwischen Bayern München und Borussia Dortmund beziehen. In der Handball-Bundesliga, der zweifellos stärksten Handball-Liga der Welt, wäre man froh gewesen, wenn es im vergangenen Jahrzehnt überhaupt ein vergleichbares Duell gegeben hätte. Acht der letzten neun nationalen Titel gingen, Überraschung!, an den THW Kiel. Da fällt mir ein: Wie oft haben die Eisbären Berlin zuletzt noch gleich die deutsche Eishockey-Meisterschaft gewonnen? Genau, sieben Mal seit 2005. Soll heißen: Die Verhältnisse im europäischen Sport sind mit ganz wenigen Ausnahmen nicht nur in Beton gegossen, sondern nachhaltig und undurchlässig versiegelt.

Im American Football gab es dagegen seit 2003 acht verschiedene Super-Bowl-Sieger, die letzten sechs Endspiele endeten allesamt mit einer Differenz von maximal sechs Punkten Unterschied, also weniger als einem Touchdown. Von den insgesamt 32 Teams, die sich auf acht Divisionen aufteilen, haben überhaupt erst vier Klubs das Kunststück fertig gebracht, nicht ein einziges Mal in das große und weltweit beachtete Finale einzuziehen. Und der  Rekordtitelträger, die Green Bay Packers, bringt es auf gerade einmal sechs Titel. Seit 1967 wohlgemerkt. Zudem liegt die letzte Titelverteidigung auch schon fast zehn Jahre zurück. 2003 und 2004 gewannen die New England Patriots die nach dem legendären Packers-Coach benannte Vince-Lombardi-Trophy.

Als wäre Mario Götze zwangsläufig zur SpVgg Greuther Fürth transferiert worden

Diese Statistiken sind Beweise für Funktionalität und Ausgeglichenheit im US-Sportsystem, das wiederum im Grundsatz auf zwei Eckpfeilern beruht: einer festgeschriebenen Gehaltsobergrenze für alle Teams, die Mäzenatentum und noch irrsinnigere Bezahlung als ohnehin schon ausschließt und auch den kleineren Klubs in Nicht-Metropol-Regionen Chancengleichheit gewährt. Und natürlich auf dem Draft-System, nach dem die schlechteste Mannschaft der Saison bei der alljährlichen Auswahl der College-Talente zuerst wählen darf. Das ist ungefähr so, als wäre der deutsche Fußball-Nationalspieler Mario Götze zwangsläufig zur SpVgg Greuther Fürth transferiert worden und nicht zum übermächtigen Branchenführer nach München.

Der legendäre „Ice Bowl“ wurde 1967 bei minus 25 Grad Celsius angepfiffen

Klingt aus europäischer Sicht vielleicht absurd, funktioniert aber nachweislich. Die Washington Redskins, ein Traditionsteam, das außer Tradition lange Zeit nichts zu bieten hatte, sicherte sich im letztjährigen Draft die Dienste von Robert Griffin III – und der junge Quarterback führte den Klub erstmalig seit einer gefühlten Ewigkeit wieder in die Play-offs. Ähnlich verhält es sich bei den Indianapolis Colts, dem neuen Klub des gebürtigen Berliners Björn Werner. Vor der Verpflichtung von Andrew Luck waren die Colts mit einer Bilanz von zwei Siegen und 14 Niederlagen das schlechteste Team der regulären Saison. Ein Jahr später zogen sie mit einer 11-5-Bilanz in die Play-offs ein. Sowohl Luck als auch Griffin gelten als Jahrhundert-Talente auf ihrer Position. Sie haben ihre Klubs in der vergangenen Saison auf ein neues Niveau gehievt.

Bestätigend kommt im Sinne der Ausgeglichenheit hinzu, dass auch andere X-Faktoren ihren Teil zu überraschenden Resultaten beitragen. Footballspiele werden zum Beispiel auch dann nicht abgesagt, wenn es Hinkelsteine regnet. Der legendäre „Ice Bowl“ im Jahr 1967 zwischen Green Bay und den Dallas Cowboys wurde bei minus 25 Grad Celsius angepfiffen.  Diese zur Schau gestellte Härte kann zu bisweilen wilden Konstellationen führen. Wenn, sagen wir: ein Team aus dem sonnigen Florida in den Play-offs im bitterkalten und verschneiten Green Bay spielen muss. Oder wenn ein Team, das seine Heimspiele für gewöhnlich in einem Dome austrägt, im windigen Chicago antreten muss. Oder. Oder. Oder.

Überdies gibt es in den Play-offs keine Serien wie im Basketball, Eishockey oder Baseball, in denen sich über sieben Spiele fast immer die bessere Mannschaft durchsetzt. American Football kennt in den Play-offs ausschließlich K.-o.-Spiele. Wenngleich die San Francisco 49, die Seattle Seahawks und die Denver Broncos vor dem Kickoff der neuen Saison als Favoriten gehandelt werden, besitzen auch in diesem wieder Jahr mindestens sechs Teams realistische Chancen auf den Titel.

Mal ganz ehrlich: Welche andere Liga kann das von sich behaupten?

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false