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Sport: Böse sind die anderen

Deutsche Sieger werden auch bei Radrennen weiter bejubelt werden

Berlin - Man müsste jetzt Gerda Heine noch einmal finden. Wir haben Frau Heine im Jahr 2000 kennen gelernt, im Sommer, am Ende einer Linkskurve kurz vor Revel im Departement Garonne. Sie stand da am Straßenrand, neben ihrem Mini-Van und den beiden gehissten Deutschlandfahnen, von denen eine das Logo der Telekom zierte. Frau Heine war gerade 50 geworden. Und davon hatten Frau Heine und ihr Mann immer geträumt: Die Tour de France vom Anfang bis nach Paris zu begleiten, durch Frankreich zu reisen, dieses wunderbare Radrennen zu beobachten und ihren Helden vom Team Telekom und dabei besonders Jan Ullrich zuzujubeln. 1997 hatten sie schon losziehen wollen, aber da hatte ihr Mann keinen Urlaub bekommen. Im Jahr darauf wurde die Tour wegen der Fußball-Weltmeisterschaft um eine Woche verschoben, und wieder waren die Urlaubspläne torpediert. Und 1999 war ihr Mann tot, Gehirntumor, mit 49 Jahren. Im Jahr darauf fuhr Gerda Heine alleine zur Tour der Leiden. Er hätte es so gewollt, da war sie sich sicher.

Wie sie so dastand im Sommer 2000 am Straßenrand und all die bunten Radfahrer an ihr vorbeirauschten, sagte Frau Heine, dass das alles bombastisch sei: das Rennen, die Stimmung, Frankreich, Jan Ullrich, Lance Armstrong und all die anderen. „Aber glauben Sie bloß nicht, dass die nur mit Müsliriegeln den Berg hochkommen. Die betrügen alle – sich, die Kollegen, die Konkurrenten, mich auch. Ich glaube hier keinem was, allenfalls dem Udo Bölts von Telekom.“ Na ja, das hat sich ja nun, im Frühsommer 2007, auch erledigt, Udo Bölts ist geständig, auch er ein Doper.

Ob Frau Heine jetzt nie mehr ein Rennen besuchen wird? Oder all die anderen, Abertausende, bei denen sich die Reuigen wortreich und wahrscheinlich auch aufrichtig entschuldigten, und deren Fansein weniger berührend ist als das von Gerda Heine? Werden die nicht mehr am Straßenrand stehen, wenn die Hatz um den Henninger Turm geht oder die Schleifen durch Frankreich oder Italien? Sie werden dastehen, jubeln. Sie werden die Augen verschließen vor der Wahrheit, und im Zweifelsfall wird es ihnen egal sein, wer da auf dem Rad mit welchen teuflischen Mitteln mindestens seine Gesundheit riskiert, möglicherweise auch sein Leben.

So war es immer. So war es Mitte der Neunzigerjahre, als aus dem Loserteam Telekom urplötzlich ein Winnerteam wurde. So war es 1997, als Jan Ullrich die Tour gewann. Und so war es im Jahr darauf, als der bis dahin größte Dopingskandal um das Festina-Team die gesamte Rundfahrt zu sprengen drohte. Fragen wurden gestellt an Lothar Heinrich, den Mannschaftsarzt von Telekom. Denn Festina war zwar ein gutes Team, aber nicht das dominierende, das war das Team Telekom. Heinrich stand vor dem kleinen Bistro, in dem Minuten zuvor Tour-Direktor Leblanc den Ausschluss der Festina-Leute verkündet hatte und in dem die Fahrer Richard Virenque und Alex Zülle mit reichlichem Tränenfluss die Wahrheit wegzuschwemmen versuchten (Tränen lügen mitunter doch: Später mussten beide unter dem Druck der Beweise den Betrug eingestehen). Man hatte in diesem Moment von Lothar Heinrich wissen wollen, wie verseucht seiner fachmännischen Meinung nach das Teilnehmerfeld denn sei. Derselbe Heinrich, dem nun ein Berufsverbot droht, antwortete damals in den üblichen Stanzsätzen: Das seien Einzelfälle, er könne natürlich nicht für jeden Fahrer die Hand ins Feuer legen, nur für seine Fahrer. Blablabla, wie man heute weiß. Und wie man damals, und nicht nur Frau Heine, ahnen musste.

Im Sport sollten sich Fragen immer wieder stellen, etwa, wenn Franziska van Almsick nachweislich gedopte Chinesinnen in Weltrekordzeit besiegt. Dann könnte Skepsis aufkommen. Es ist nur so, dass immer andere böse sind, nie die Deutschen, obwohl im einen Teil des Landes das Doping viele Jahre dem Staatsauftrag diente und im anderen der Gewinnmaximierung. Die anderen sind die Bösen. Und mit denen die Fragesteller.

Die hat es durchaus gegeben, aber es waren nicht die, die jetzt die Empörten sind. Die haben beide Augen jahrelang fest verschlossen, noch eine Binde rumgewickelt und die Ohren fest verstopft. Jetzt hat sich auch Angela Merkel zu Wort gemeldet, empört, erstaunt. Man mag ihr zugute halten, dass sich die Bundeskanzlerin um wichtigere Sachen zu kümmern hat als um Doping im Radsport. Aber eigentlich wünscht man sich auch, dass sie sich in diesen wichtigeren Fragen nicht ebenso blauäugig und naiv verhält. Ach Gottle, Frau Merkel, in welcher Welt haben Sie eigentlich gelebt? In der von Rudolf Scharping? Der ist heute Präsident des deutschen Radsportverbandes.

Im Sommer 1998 trat Scharping (damals SPD-Fraktionschef und Oppositionsführer im Bundestag) in seiner Nebentätigkeit als Kolumnist der „Bild“-Zeitung in der Frühe ins Pressezelt und begrüßte die Journalisten: „Guten Morgen, Kollegen.“ Und mit Blick auf die, die zweifelten, warum Lance Armstrong verdächtig sein soll, aber die, die ihn besiegen konnten, nicht: „Ah, ich sehe, die Kollegen Nestbeschmutzer sind auch schon wieder bei der Arbeit.“

Bei der Tour waren die Schatten augenfällig, sie fuhren auch neben den Magentatrikots. In den bunten Bildern, die nach Deutschland übertragen wurden, waren sie nicht zu sehen. Wie auch, wenn die ARD Millionen gab für bunte Bilder? Einem Berichterstatter wurde die Entlassung angedroht, weil die wütenden Leserbriefe sich häuften, weil einer der heute reuigen Sünder eine Gegendarstellung durchgesetzt hatte (übrigens genau dafür, wofür er sich heute entschuldigt).

Noch eine Szene, eine letzte. Sie spielte sich in L’Alpe d’Huez ab, Jan Ullrich war gerade von Marco Pantani abgehängt worden und gab im Mannschaftshotel eine improvisierte Pressekonferenz. Er war dabei sehr entspannt, so als sei ihm gerade die schwere Last vom Herzen gefallen, für Deutschland siegen zu müssen. Einer der zweifelnden Berichterstatter hatte sich über ein Sofa gebeugt, um genau eine Frage nach dieser Entspannung zu stellen. Als Jürgen Kindervater, damals Kommunikationschef der Telekom und blauäugiger Radsportfan, sich anpirschte: „Schieben Sie Ihren Arsch beiseite, Sie Lügner!“ Kindervater, Chef des Ganzen, musste nicht wissen, was los war. Aber wieso glaubte er zu wissen, was nicht los war?

Und so wird es wohl weitergehen. Wir werden die Sieger, sofern sie nicht aus Deutschland stammen, skeptisch bestaunen. Wir werden die deutschen Sieger bejubeln und nicht weiter nachfragen. Aber jetzt haben wir noch eine neue Disziplin dazu gewonnen. Drei Events, wie toll: Erst einmal schauen wir der freudigen Erregung in der Vorbereitung zu. Super. Dann dem Ereignis. Supertoll. Dann dem Outing des Siegers. Och, gibt’s doch gar nicht! Gibt es doch.

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