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Nationalhelden mit Pfeil und Bogen. Das südkoreanerische Bogenschießen-Team bei den Olympischen Spielen in London.

© dpa

Bogenschießen in Südkorea: Anvisieren, anspannen, loslassen

Kein Land in der Welt dominiert das Bogenschießen so wie Südkorea. Bei den Asienspielen holten die Gastgeber nun fünf Goldmedaillen in acht Wettbewerben. Ein Ortsbesuch in einer der Kaderschmieden.

In Seoul senkt sich die Abendsonne hinter Wolkenkratzern, die Sicht wird langsam schummerig. Als sich auf den Straßen der südkoreanischen Hauptstadt der Verkehr staut, steht nahe des alten Olympiastadions eine Gruppe Jugendlicher im Kreis. Dehnübungen. „Jetzt den rechten Arm nach links über den Kopf strecken“, befiehlt Chae Chun Kim in ruhigem Ton. Die elf Halbgaren gehorchen. Nach zehn Minuten gehen sie in eine Hütte und holen ihr Gerät: Pfeil und Bogen.

An der „Physical Education High School“ von Seoul, einem der Olympiastützpunkte Südkoreas, arbeiten junge Menschen jeden Tag, um sich ihren Traum zu erfüllen. Dabei leben sie für eine der erfolgreichsten Sportarten ihres Landes, die aber anderswo auf der Welt als eine der langweiligsten überhaupt gilt. Südkoreas Sportelite bereitet sich hier auf eine Karriere im Bogenschießen vor.

„Halt’ den Arm länger gestreckt!“, zischt Trainer Chae Chun Kim zu einer Schülerin. 25 Meter entfernt ruht die bunte Zielscheibe, die nur noch Dank ihrer grellen Farben in der Dämmerung zu sehen ist. Hinter den Laufbahnen und Sportplätzen gibt es auf der Anlage für die Schützen kein Flutlicht. „Ist aber auch besser so“, flüstert Kim: „So konzentrieren sie sich besser.“

19 Mal hat Südkorea bei seit 1972 Olympia-Gold im Bogenschießen gewonnen

Rund 2000 Jugendliche in Südkorea betreiben das Bogenschießen als Leistungssport, damit dürfte das Land weltweit führend sein. Auch sonst trifft das zu. Bei Olympischen Spielen zählen die Bogenschützen zu den Medaillengaranten, sowohl die Weltranglisten der Männer als auch die der Frauen werden von Südkoreanern angeführt. Die Besten leben von diesem Sport, Sponsorenverträge machen sie zu nationalen Berühmtheiten. Vor allem dieser Tage, wo im benachbarten Incheon die Asienspiele steigen, blickt ein ganzes Land auf seine Favoriten.

„Ich will so schießen können wie Ki Bo Bae“, sagt die 19 Jahre alte Ham Min Jung und kneift das linke Auge zu. Sie gehört zu den besten Athletinnen der Schule. Ihren drahtigen Körper spannt sie ähnlich wie den Bogen vor ihr, der fast so groß ist wie sie selbst. Ihr Pferdeschwanz baumelt noch leicht, wenn sie die Spannung des Bogens loslässt. Bis zum dumpfen Geräusch des Einschusses hält Ham Min Jung ihren Arm waagerecht. Regungslos registriert sie, wie ihr Pfeil die Mitte der Zielscheibe trifft. Ein bisschen so wie ihr Vorbild Ki Bo Bae, die bei den Olympischen Spielen von London vor zwei Jahren Gold holte.

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Auch bei den Asienspielen, die noch bis zum Sonnabend andauern, überzeugen die Südkoreaner das heimische Publikum mit fünf Goldmedaillen in acht Wettbewerben. Hinzu kamen dreimal Silber und einmal Bronze. 19 Mal hat Südkorea seit der Wiederaufnahme bei den Olympischen Spielen 1972 Gold im Bogenschießen gewonnen, so oft wie keine andere Nation.

Der ewige Widerspruch von Nervosität und Ruhe macht die Faszination aus

„Unsere Nachwuchsarbeit ist systematischer als anderswo“, sagt Chae Chun Kim. Ham Min Jung und die anderen Talente trainieren wie die Profis sechs Stunden am Tag. Es geht um Konzentrationsübungen, Muskelaufbau, Balance und Schusstechnik. Auf oberstem Niveau macht oft nur die mentale Stärke den kleinen Unterschied. „Die Tennisspieler erklären doch immer, dass sie von Aufschlagspiel zu Aufschlagspiel denken“, sagt Kim. „So ist das bei uns auch. Wir wollen gar nicht das Große und Ganze eines Wettkampfes sehen, das würde uns kaputtmachen. Einfach nur die Zielscheibe anvisieren, anspannen, loslassen, den Bogen halten.“

Dieser ewige Widerspruch von Nervosität und Ruhe macht für die koreanischen Fans die Faszination dieses Sports aus. Aber dass Chae Chun Kim es gewohnt ist, die eigene Sportart mit den Metaphern anderer Disziplinen zu erklären, verrät viel über den Stand des Bogenschießens in seinem Land. Jeder kennt zwar die Erfolge der Südkoreaner, die meisten haben den Sport selbst einmal in der Schule erlernt. Doch über das Jahr gesehen ist es nicht vor allem Bogenschießen, das die Massen begeistert, sondern Fußball, Baseball, Taekwondo oder Basketball.

Kaum ein anderer Sport blickt jedoch auf eine so lange Tradition zurück wie das Spiel mit Pfeil und Bogen. Ursprünglich waren die Geschosse zum Schutz von Oberhäuptern und in Kriegen genutzt worden, als aber zu Beginn der Moderne andere Waffen effektiver geworden waren, wurde das Bogenschießen auf eine Kunstform reduziert. Für Ästhetik, Ruhe und Beharrlichkeit sollte sie stehen. Nach einem Besuch des preußischen Prinzen Heinrich im 19. Jahrhundert wurde das Bogenschießen dann zu einer Wettkampfdisziplin. Bei einer Aufführung soll Heinrich von den Geschicken der Schützen so sehr geschwärmt haben, dass der regierende König Kojong die Tradition daraufhin erneut aufleben ließ.

Bei den Olympischen Spielen 1900 in Paris gehörte Bogenschießen erstmals zu den Disziplinen

Als Korea bald darauf zu einer Kolonie von Japan wurde und dies bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs auch blieb, geriet die Sportart aus dem Fokus. Doch mit der Rückbesinnung auf alte Traditionen folgte ein wahrer Boom. Zwischen 1947 und 2002 wuchs die Zahl der koreanischen Bogenschießvereine von 24 auf 314. Landesweit dürften heute immerhin 30 000 Koreaner regelmäßig auf die Zielscheibe schießen. Spätestens seit den Olympischen Sommerspielen von Seoul 1988, als die Gastgeber drei Goldmedaillen holten, ist Südkorea auch sportlich eine Weltmacht mit dem Bogen.

Das Training an der Sportschule in Seoul neigt sich mittlerweile dem Ende entgegen, einige der Jugendlichen albern herum. „Die Jungen von heute sind richtig gut, sie gewinnen internationale Turniere“, sagt der 44 Jahre alte Chae Chun Kim, der selbst als Schütze an den Asienspielen teilgenommen hat. „Aber ihnen fehlt der Hunger. Heute schießen sie pro Tag 600 Mal auf die Scheibe. Ich habe damals noch 1500 Schüsse am Tag gemacht.“

Südkorea hat sich von einem der ärmsten Länder der Welt mittlerweile zu einem Industriestaat entwickelt. Die Älteren, die noch nicht in Wohlstand aufgewachsen sind, werfen den Jungen von heute immer wieder vor, verwöhnt zu sein, den Kampfgeist vermissen zu lassen. Die Zimmer der „Physical Education High School“ sind daher karg eingerichtet, ohne jede Ablenkung, der Alltag streng organisiert. „Das ist manchmal schade, dass wir wenig Freizeit haben“, sagt Ham Min Jung nach dem Training, als sie ihren Bogen putzt. „Aber nur so geht es wohl nach oben.“

Dorthin, was anderswo kaum möglich ist: zu einer Profikarriere als Bogenschütze.

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