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Boxer Charly Graf: Durchs Leben geschlagen

Sein Leben hat ihn aus der Barackensiedlung in den Boxring geführt, von dort ins Rotlichtmilieu und ins Gefängnis. Heute ist der Boxer Charly Graf Sozialarbeiter und bringt schwererziehbaren Jugendlichen bei, was ihm damals keiner beigebracht hat: Einstecken und Durchhalten.

Von Katrin Schulze

Wie er da so durch die muffige Sporthalle ruft, während der alte Holzboden unter seinen Füßen knackt, ist es, als sage er die Worte nicht nur zu seinen Schülern, sondern auch zu sich selbst. Sie klingen wie eine Kurzversion seines bislang 61 Jahre währenden Lebens.

„Mehr Dampf.“

„Durchhalten.“

„Du sollst boxen und nicht schlagen.“

„Mit Kopf.“

„Weglaufen kann jeder Idiot.“

„Stopp.“

Charly Graf leitet seinen dritten und letzten Boxkurs an diesem Tag. Hier kann er zeigen, was er kann und was Sport kann. Zieht man die unseriösen Dinge ab, ist Boxen das Einzige, was der Mann richtig gelernt hat. Bis an die Spitze schaffte er es und sucht jetzt doch die Basis. Schon seit acht Uhr morgens tingelt er durch Mannheimer Hauptschulen und lässt es knacken.

Der Holzboden ächzt von den flinken Tippelschritten der Jugendlichen, während sie mit ihren Fäusten in den Boxhandschuhen gegen eine dicke blaue Matte trommeln, die nur einen dumpfen Knall zur Antwort gibt. Pause. Der Schweiß suppt durch die T-Shirts. Dann: weitertrommeln, Pause, weitertrommeln. Trommeln für ein besseres Leben.

Als schwer erziehbar gelten sie, die schwitzenden Jungs und Mädchen. Einige von ihnen haben in ihren jungen Jahren kaum etwas gelernt über Disziplin und Respekt, andere wollten es einfach nicht lernen oder hätten sich andere Freunde aussuchen sollen. Und manche wachsen dazu noch in ärmlichen Verhältnissen auf, ihre Möglichkeiten sind überschaubar. Nichts Neues für den Mann, der „Mehr Dampf“ ruft.

Er wurde in einem Slum groß, mitten in Deutschland. Mannheim, Stadtteil Waldhof. Hier, wo die Benzbaracken in den 50er und 60er Jahren dicht an dicht standen und den schmuddeligen Teil der jungen Republik repräsentierten. Ein Bad für 60 Leute gab es, sonst nicht viel. Seine Mutter trank, und nicht selten brachte sie Männer mit nach Hause ins kleine Barackenzimmer, immer andere. „Negerkind“ nannten ihn einige. Der Mann, der Charles Graf, genannt Charly, zeugte, war Besatzungssoldat und ging bald zurück in die USA. Der zurückgelassene Junge lernte schnell, wie er sich durchboxen konnte. Ein starker Oberarm zum Beispiel machte sich ganz gut bei den vielen Prügeleien, und später auch bei seinem Job im Rotlichtmilieu.

Die Sache mit den Oberarmen ist geblieben. Mit der eng anliegenden beigen Leinenweste, die er heute zur Bluejeans trägt, sehen sie sogar noch ein bisschen muskulöser aus, als sie ohnehin sind. Nur den braunen Hut, seine Sonnenbrille und die dicke Silberkette hat Charly Graf abgenommen, ansonsten steht er nun in Straßenkleidung wie ein bissiger Wachhund vor der Sprossenwand und ordnet ein paar Sprints an.

Sprints und Armmuskeltraining. Wenn Coach Graf es will, wenn er „Jetzt“ sagt, schieben seine Schüler Liegestütze ein. „Jetzt“, sagt er und spaziert dabei in aller Ruhe durch die Halle. „Jetzt.“ Noch ein Liegestütz. Die technische Ausführung ist gar nicht so wichtig, es geht um Kondition, Disziplin und die Erkenntnis, dass Boxen mehr ist als ein stupider Kampfsport. „Jetzt.“ Die ersten Arme zittern, und der Coach ruft: „Durchhalten“. Einen Moment noch, dann plumpst ein Junge vor Erschöpfung zu Boden. Er hat aufgegeben, vielleicht hat er sich auch gehen lassen. Charly Graf schüttelt kaum merklich mit dem Kopf, sagt aber nichts.

Der Weg zum Boxer und ins Gefängnis

Früh fiel er mit seinem massigen Körper auf, Trainer nahmen sich seiner an, und bald wusste er zu boxen wie ein Großer. „Ali von Waldhof“ nannten sie ihn in Anlehnung an Muhammad Ali, weil er sich ähnlich durch den Ring bewegte. In seinem ersten Profikampf, gerade 17 Jahre alt war er, lag der Gegner schnell am Boden. Fünf Mal ging das so weiter. Und auf einmal war Charly Graf nicht mehr nur das halbschwarze Arbeiterkind aus den Benzbaracken, sondern für manche schon ein kommender deutscher Weltmeister im Schwergewicht. Auf einmal bekam er das, was ihm in seiner Kindheit gefehlt hatte: Anerkennung, Glückwünsche, Schulterklopfer, wenn auch nicht immer von den kultiviertesten Typen.

In schummrigen Hallen wurde damals vor dubiosen Zuschauern geboxt, und da war es für Charly Graf nicht weit vom Ring zum Rotlicht. Es ging um Zuhälterei und Glücksspiel. Damit begannen seine Probleme, die nur noch größer wurden, als er anfing, im Ring zu verlieren. Als er dann immer wieder ins Gefängnis musste – mit Unterbrechungen saß er zehn Jahre –, war sein Talent schnell vergessen.

Seinen Schülern hat Graf gleich in der ersten Stunde davon erzählt. Davon, wie unglaublich das Leben manchmal laufen kann und dass es nie zu spät ist, die Kraft von Worten zu erkennen. Die Jugendlichen haben es selbst in den Händen, es besser zu machen als ihr Trainer.

Zwei Möglichkeiten gibt es im Boxen wie im Leben: austeilen und einstecken. Selten beherrscht jemand beides gleich gut, es ist ein steter Kampf um die Balance, und die Rede ist hier nicht von körperlicher Anstrengung. Charly Graf hat spät in seinem Leben verstanden, dass sich Probleme auch anders als mit Faustschlägen lösen lassen. Dazu musste er bis zum Hochsicherheitsgefängnis nach Stammheim kommen und dort einen schmächtigen Häftling kennenlernen, den ehemaligen Terroristen der Rote Armee Fraktion, Peter-Jürgen Boock.

Boock brachte Charly Graf, der bis zu seinem 30. Lebensjahr nie ein richtiges Buch gelesen hatte, zur Literatur. Er legte ihm Romane hin, die Graf immer wieder las. William Faulkner kann er heute frei zitieren. Mit den Büchern begann das Rattern in Grafs Kopf, das Grübeln über das eigene Leben.

In der Mannheimer Sporthalle kämpft jetzt Eduard gegen Bilal. Eduard ist in die Defensive geraten. Er hebt die Hände, versucht sich zu wehren, doch die in die Handschuhe eingepackte Faust seines Klassenkameraden klatscht mitten in sein Gesicht. Der Hieb hat gesessen. Und Bilal denkt gar nicht daran, jetzt aufzuhören. Noch einmal holt er aus. Und noch mal. „Du sollst boxen und nicht schlagen“, sagt Charly Graf zu ihm. Dabei hat er selbst lange genug gebraucht, um es zu begreifen. Dass ein Gefängnisaufenthalt nicht, wie viele meinen, die End-, sondern auch eine Zwischenstation im Leben sein kann.

1984 ist es gewesen. Charly Graf war 32, der Fußballverein aus seinem Stadtteil, der SV Waldhof, erlebte in der Bundesliga gerade die beste Zeit seiner Geschichte, und er boxte und trainierte seit einer Weile wieder. Er trainierte im Gefängnis, soweit das möglich war. Mehr noch, Charly Graf gelang es sogar, einen echten Kampf zu organisieren, den er zur Überraschung der Experten und dreisterweise auch noch durch Knockout gewann. „Im Ring frei“, schrieb das Magazin „Der Spiegel“ damals über die bis heute einmalige Geschichte vom Straftäter aus dem Mannheimer Ghetto, der mit Polizeischutz zum und vom Kampf in der Frankfurter Festhalle geführt wird.

Auf dem Boden quietschen die Turnschuhe und setzten sich über das Knacken hinweg. Die stickige Hallenluft mischt sich mit dem Schweißgeruch und führt zusammen mit der Anstrengung dazu, dass Eduard wie eine Dampflok zu schnaufen beginnt. Seine Arme werden schwer, er kann sie kaum noch oben halten. „Nicht nachlassen. Deckung“, ruft der Trainer noch, doch es hilft nichts. Eduard zieht sich rückwärts tippelnd zurück. „Weglaufen kann jeder Idiot.“

Seine eigene Deckung beherrscht Charly Graf nicht mehr so gut wie einst. Jahrelang spiegelte seine bullige Fassade, die er fünf Mal in der Woche im Fitnessstudio pflegte, die Härte dieses Mannes wider. Komm mir bloß nicht zu nahe!, war noch das Harmloseste, was er ausstrahlte. Doch dieses Bild, auch wenn er es selbst gerne so hätte, lässt sich kaum noch aufrechterhalten. Die mühsam errichtete Mauer ist löchriger geworden, und inzwischen gewährt er wenigstens ab und zu Einblicke in sein Innenleben. Das kommt ihm selbst manchmal unheimlich vor. Ist er das wirklich?

Als er sich vor kurzem in einem Dokumentarfilm sah, der fürs Fernsehen über ihn gedreht worden ist, war er verblüfft darüber, wie reflektiert er rüberkommt. Tatsächlich wirkt Charly Graf manchmal direkt gedankenverloren, wenn er in den Himmel schaut und dabei pfeift oder singt. Und wenn er zwischendurch doch mal etwas sagt mit leicht lispelndem Tonfall, klingt es nachdenklich. Er redet langsam und macht Pausen, so, als wäge er jedes Wort eines Satzes genau ab.

„Ich bin konzentriert ... kämpferisch ... glücklich ... und erfolgreich.“ Sagt er leise zu den Jugendlichen, die sich jetzt rücklings auf dem Hallenboden fläzen. Die Ruhe nach der Anstrengung. Fünf Mal wiederholt er seinen Satz, vielleicht glauben die Kinder dann wirklich daran. Vielleicht auch er selbst.

Wie oft mag er sich den Satz vom kämpferischen, glücklichen und erfolgreichen Mann wohl gesagt haben, nachdem er den Kampf um die deutsche Meisterschaft verloren hatte?

Ein knappes Jahr war seit seinem ersten Erfolg aus dem Gefängnis heraus vergangen, da trat er gegen Thomas Classen an. Die Zuschauer am Ring sahen ihn vorne. Trotzdem entschieden die Punktrichter anders. Gegen ihn. Schiebung, vermuteten viele, beweisen konnten sie es nie. Und so stieg Charly Graf, das große Talent aus den Baracken vom Waldhof, mit einem Gefühl aus dem Ring, das er kannte. Verlierer, Versager.

Es fiel ihm schwer, die Niederlage zu begreifen, sie einzuordnen, und es dauerte eine ganze Weile, bis er sich mental davon erholte, rückfällig wurde er dennoch nicht. „Du musst nur ein Mal siegen – dann, wenn du es das letzte Mal probierst“, sagte einmal Phil Knight, der Gründer des Sportartikelherstellers Nike. Charly Graf hat es nach dem für ihn so bitteren Kampf gegen Thomas Classen, der den Titel und all den Ruhm davontrug, nie wieder versucht.

Er klatscht in die Hände. „Schluss für heute“, soll das heißen, und die Schüler gehen in die Umkleidekabine. „Tschüss Charly“, rufen sie, als sie wieder rauskommen und Charly Graf nach Hause marschiert. Ein Auto kann er sich nicht leisten, aber er ist schon froh, dass seine Sozialarbeit, die er lange Zeit ehrenamtlich ausführte, mittlerweile mit ein paar Euro honoriert wird.

Alte Narben und späte Siege

Rainer Spagerer hat dafür gesorgt, ein gemütlicher Mann mit grauem Schnauzbart, dem man es nicht übel nähme, wenn er über Charly Graf schimpfen würde. Seit sie klein sind, kennen sich die beiden Männer schon. Und irgendwie sind sie auf erstaunliche Weise immer mit Mannheim und miteinander verbunden geblieben. Im Schüleralter nahm der halbstarke Charly Graf dem viel kleineren Rainer Spagerer aus dem besseren Wohnviertel immer die Frühstücksbrote ab. Später verfolgte Rainer Spagerer neben seinem Job bei der Mannheimer Wohnungsbaugesellschaft und den vielen ehrenamtlichen Tätigkeiten in Fördervereinen und beim SV Waldhof auch immer mal wieder, wie es dem einstigen Gegner aus den Baracken so erging.

Wiedergesehen haben sich die beiden aber erst 40 Jahre nach der Aktion mit dem Frühstücksbroten, als Charly Graf mit Mietschulden zur Behörde ging und zufällig von einem gewissen Rainer Spagerer empfangen wurde. Spagerer war weniger überrascht als sein Gegenüber und half ihm, so, wie er ihn seither oft unterstützt, wenn es mal Probleme gibt mit der Miete, dem Strom oder dem Job. Ein ganz anderer Mensch sei Charly Graf heute, viel besonnener. „Einer von den Guten“, sagt Rainer Spagerer, der von Graf und dessen Kumpels früher auch schon mal verprügelt wurde.

Ein paar Narben sind auch Charly Graf als Erinnerung geblieben. Zwei davon, eine größere über seinem linken Ellbogen, eine kleinere auf seinem rechten Handballen, fallen an diesem Tag in der grellen Sonne über Mannheim besonders auf. Der Schweiß legt sich langsam über sie, während Graf entlang einer Schnellstraße in den Feierabend läuft. 20 Minuten dauert es zu Fuß von der Pfingstbergschule zur nächsten Straßenbahnhaltestelle Richtung Zentrum. Genug Zeit zum Nachdenken.

Lässt sich die Welt vielleicht nicht nur in Sieger und Verlierer einteilen? Sein Lebensstil, die Fünftagewoche als Sozialarbeiter, ist doch ziemlich gewöhnlich. Noch nicht ganz das, was man Mittelschicht nennt. Aber immerhin: solide, legale Arbeit. Weit weg von Gefängnissen.

Auch Mannheim-Waldhof, immer noch kein Vorzeigeviertel, der ansässige Fußballklub ist längst abgetaucht bis in die Regionalliga, lässt Graf heute meistens unbeachtet, wenn er mit der Straßenbahn zur Arbeit ruckelt. Die Häuser und Plätze seiner Stadt schwirren an ihm vorbei. Er kennt sie ja. Immer wieder hat es ihn hierhin zurückverschlagen, wo seine Vergangenheit ihn überall einholt.

„Weglaufen kann jeder Idiot.“

Nach einem seiner Knastaufenthalte ist Charly Graf erst einmal weggelaufen, weil ihn die alten Bekannten wieder lockten mit Jobangeboten als Zuhälter oder Türsteher. Also versuchte er sich als Kuhtreiber im Allgäu und kehrte erst zurück, als die Beziehung mit einer Frau, die er in den Bergen kennengelernt hatte, auseinandergebrochen war.

Jetzt lebt er wieder allein. In der Nähe des Mannheimer Zentrums auf rustikalen 48 Quadratmetern. Viel Holz, ein Zimmer, Kochnische, Bad. Nichts Luxuriöses, eine Steigerung zum Barackenraum und zur Gefängniszelle in jedem Fall. Aber auch hier ist es überall, sein früheres Leben. Es taucht in den kleinen Pokalen auf den Regalen und den vielen Bildern auf, die an den knallrot gestrichenen Wänden hängen. Die meisten zeigen ihn in Boxpose, fertig zum Kampf.

Neulich kam ein alter Gegner zu Besuch. Er hat das wilde Leben des Charly Graf über all die Jahre, die sie sich nicht gesehen haben, aus der Ferne beobachtet und war reichlich beeindruckt von so viel Lebensmut, der offenbar ansteckend wirkte. Nach all dem, was passiert ist, nach all der Zeit stand er plötzlich vor der Tür, weil er die Videoaufnahmen und die Bilder von sich als falschem Sieger nicht mehr ertragen konnte. Thomas Classen war gekommen, um Charly Graf etwas vorbeizubringen: die Medaille für den Gewinn der deutschen Meisterschaft 1985.

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