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Thüringenliga statt Copacabana. Juninho hat seine Heimat Rio de Janeiro verlassen, um in Deutschland Profi bei einem Zweitligisten zu werden. Das soll ihm sein Berater versprochen haben. Jetzt schießt der Brasilianer Tore für den Sechstligisten 1. FC Gera 03.

© Jens Lohse

Brasilianer auf Abwegen: Juninhos Traum

Immer wieder werden brasilianische Fußballer mit großen Versprechungen nach Deutschland gelockt. Wie der 19-jährige Carlos, der beim Sechstligisten 1. FC 03 Gera gestrandet ist

El Clásico“. Juninho liebt diese zwei Wörter. Wenn er sie ausspricht, überschlägt sich seine Stimme vor Freude. Schon als kleiner Junge hat er davon geträumt, einmal für Real Madrid oder den FC Barcelona aufzulaufen, deren Aufeinandertreffen in Spanien „Clásico“ genannt wird. Juninho liebt diesen Traum, sein Saisonhöhepunkt aber ist das Stadtderby von Gera zwischen dem 1. FC 03 und Wismut. Die Mitspieler in Gera haben ihm erzählt, dass dieses Duell auch ein Klassiker ist. Zumindest hat Juninho es so verstanden. Er spricht kaum Deutsch, sein Englisch ist nicht besser. Die Geschichte vom Geraer „Clásico“ glaubt er trotzdem.

Mit der Wirklichkeit hat Juninhos Traum nichts gemein, das ist bei vielen brasilianischen Fußballern im Ausland so. Die meisten fristen in niederen Spielklassen ihr Dasein – nicht selten an der Grenze des Existenzminimums. Nur wenige erlangen den Ruhm und die Gagen ihrer berühmten Landsleute Ronaldinho oder Robinho. Allein 2010 verließen 1440 Brasilianer ihr Land, um in der Fremde als Fußballer Geld zu verdienen; nur Argentinien exportiert noch mehr hoffnungsvolle Kicker. Die Erhebungen stammen von der deutsch-argentinischen Sportmarketingfirma „Euroamericas“. Deren Mitarbeiter Gerardo Molina sagt: „Wir haben bei der Untersuchung nur Spieler berücksichtigt, die in ihren Gastländern mit Profiverträgen ausgestattet wurden. Die Zahl derer, die als Amateure in unteren Spielklassen ihr Glück versuchen, ist viel höher.“ Wie hoch genau, kann Molina nicht sagen, aber „mehrere tausend werden es wohl sein“. Juninho zählt zu diesen Ungezählten. Wie so viele andere ist er den Worten eines findigen Beraters nach Europa gefolgt. Die Fähigkeiten für einen Profivertrag besitze er, wurde ihm versichert. Doch anstatt bei Werder Bremen oder Borussia Dortmund spielt Juninho jetzt in Gera, wo die Gegner Ilmenau und Pößneck heißen.

In Gera kann es im Winter sehr kalt sein. Zu kalt für Juninho, den hier alle Carlos nennen. Weil er Carlos heißt, Carlos Martines Marques Pereira. Dass er viel lieber Juninho gerufen wird, interessiert keinen. Mehr als die Geschichte mit seinem Namen macht Juninho aber die Kälte zu schaffen. Schnee und Eis lagen bis vor kurzem noch jenseits seiner Vorstellungskraft. Entsprechend lustlos trabt der 19-Jährige an einem Freitagabend im Dezember über den Trainingsplatz. Das Thermometer zeigt minus zehn Grad, Schneemassen türmen sich neben dem Spielfeld, der „Clásico“ gegen Wismut ist abgesagt. Juninho hat seine schwarze Wollmütze tief ins Gesicht gezogen, der Schal ist weit nach oben gebunden. In diesem Outfit sieht der schmächtige Offensivspieler eher wie ein Kleinkrimineller als ein Fußballer aus. Nach einem missglückten Dribbling auf dem gefrorenen Boden dreht sich Juninho lustlos weg.

Es ist selten, dass ihm auf dem Fußballfeld etwas misslingt. In der Thüringenliga macht Juninho mit seinen Gegenspielern, was er will, und erzielt Tor um Tor. 14 waren es bisher. Beim Training ist davon nicht viel zu sehen. „Das hier hat doch nichts mit Fußball zu tun“, sagt Juninho später. „Alles Glückssache.“

Viele Brasilianer fliehen zu Weihnachten in die Heimat

Er mag den Winter nicht – genauso wenig, wie er Gera mag. „Naja, eigentlich ist es gar nicht so schlecht hier, aber es ist nicht das, was ich mir erhofft habe“, sagt Juninho bei einem Spaziergang durch die Innenstadt. Kaum jemand erkennt ihn, einige Passanten drehen sich um, Menschen mit dunkler Hautfarbe sind in der thüringischen Kleinstadt eine Seltenheit. Der Verein hat ihm eine Wohnung im Zentrum gestellt: drei Zimmer, zwei Bäder, eine Küche. Juninho teilt sich die Unterkunft mit einem Mitspieler aus Ägypten. Über den beiden wohnen zwei andere Spieler, der eine aus Kamerun, der andere aus der Türkei. Sie alle treten für Gera 03 in der sechsten Liga an. Die Miete zahlt der Verein, Juninho muss nur für Essen und Spesen aufkommen. Dafür erhält er vom Klub rund 700 Euro im Monat. Wenn er Glück hat. Zuletzt gab es Streit um die Prämien. „Alles ausgeräumt“, sagt Juninho inzwischen.

Juninho hat sich an die Unregelmäßigkeiten im Zahlungsverkehr gewöhnt. Bis zum ersten November lief ein vorläufiges Insolvenzverfahren gegen Gera 03, der Verein hatte sich im Vorjahr eine Liga höher finanziell übernommen. Für Juninho sind 700 Euro im Monat bisher das Höchste, was er in Deutschland verdient hat. Bei seinen vorherigen Stationen bekam er nicht einmal die Hälfte. Besonders schlimm war es am Anfang in Stendal, wo Juninho mit mehreren Brasilianern strandete. „Uns wurde gesagt, dass wir in Deutschland einen Klub in der Zweiten Liga zugeteilt bekommen“, erzählt Juninho. „Deshalb habe ich meine Heimat Rio de Janeiro verlassen.“ Stattdessen mussten er und seine drei Landsleute für den 1. FC Lok Altmark Stendal auf Torejagd gehen – in der Verbandsliga Sachsen-Anhalt. Angesprochen wurde Juninho damals in Brasilien von einem Spielerberater, der ihm die große Karriere prophezeite.

Michael Budzinski streitet diese Geschichte ab. „Ich habe niemals behauptet, dass die Spieler hier automatisch bei einem Zweitligisten landen“, sagt der Mann, der Juninho nach Deutschland gelotst hat. „Es hieß damals, dass sie sich mit guten Leistungen eventuell für einen Zweitligisten empfehlen können.“ Als Budzinski sich vor mehr als zwei Jahren nach Brasilien aufmacht, träumt er in gewisser Weise den gleichen Traum wie die Fußballer. Als Berater erhofft er sich das große Geld. Eine offizielle Lizenz des Fußball-Weltverbandes Fifa hat Budzinski bis heute nicht. Es gibt juristische Kniffe, mit denen man diese Auflage umgehen kann. Budzinski kennt sie alle.

Der Berater spricht kein Portugiesisch; wenn er Spieler anspricht, muss ein Übersetzer helfen. Eigentlich kommt der 41-Jährige nicht aus der Branche, bis vor wenigen Jahren machte er noch in Immobilien. Dann kam die Wirtschaftskrise und mit ihr die Hoffnung vom schnellen Geld im Fußball. Budzinski pendelt zwischen den Kontinenten, immer wieder überredet er Spieler, mit ihm nach Deutschland zu kommen.

Irgendwann ist auch Juninho dabei. Budzinski zahlt als Starthilfe meist den Flug und die Unterkunft. Immer in der Hoffnung, mit einem Spieler das ganz große Geschäft zu machen. Einmal soll er eine ganze Mannschaft an einen Sechstligisten in Brandenburg vermittelt haben. Kurz vor Weihnachten verabschiedete sich ein Großteil der Spieler in den Urlaub, das letzte Spiel vor der Winterpause musste der Verein mit sechs Spielern bestreiten – alle anderen waren schon in Brasilien, einige von ihnen kamen nicht mehr zurück. Schon bald wird auch Budzinski von der Realität eingeholt. Aufenthaltsgenehmigungen, Spielberechtigungen und Visaanträge machen ihm das Leben schwer. Nur einmal kann er einen Spieler mit einem Profivertrag ausstatten – in der zweiten portugiesischen Liga. Heute blickt der Geschäftsmann mit einem Kopfschütteln auf seine Zeit als Spielervermittler zurück. „Das war im Grunde ein Flop. Alles in allem habe ich bei der Geschichte 300 000 Euro in den Sand gesetzt.“ Das ist genug Geld, um vom Spielerberaterbusiness genug zu haben, findet Budzinski. Künftig will er im Baugeschäft sein Glück suchen, in Turkmenistan.

Juninho kann nicht so einfach die Branche wechseln. Er hat die Schule abgebrochen, außer Fußball nichts gelernt. Von Michael Budzinski hat er sich schon lange getrennt. „Der hat immer nur viel erzählt, und am Ende ist nichts davon wahr geworden“, sagt Juninho. Er will sich nun allein durchschlagen, nach seinem Weihnachtsurlaub in der Heimat will er wieder aus Brasilien weg. „Dort regiert die Mafia“, meint Juninho. „Wenn du keinen mächtigen Berater hast, gibt es keine Chance, bei einem größeren Klub unterzukommen.“ Dann doch lieber Deutschland. Juninho glaubt immer noch fest daran, dass er es schaffen kann. Auch daran, das er vielleicht noch mal beim echten „Clásico“ auf dem Feld steht? Juninho muss schmunzeln. „Wohl eher nicht.“ Die eineinhalb Jahre in Deutschland haben ihn realistisch werden lassen.

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