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Symbol des Überlebens. Torwart Jackson Follmann verlor bei dem Absturz im November ein Bein. Sein Beispiel soll die vielen neuen Spieler von Chapecoense motivieren.

© Antonio Cicero/dpa

Brasilianischer Fußballklub Chapecoense: Das Wunder nach dem Flugzeugabsturz

Der Verein Chapecoense verlor bei einem Flugzeugabsturz fast sein komplettes Team – nun kämpft er sich zurück.

Anfang November 2016 ist Chapecó noch eine glückliche Stadt. Die 210 000 Einwohner sind stolz auf ihren Klub, die Associaçao Chapecoense de Futebol. Der Außenseiter aus dem Süden Brasiliens hat nacheinander die argentinischen Traditionsklubs Independiente und San Lorenzo besiegt und steht im Finale der Copa Sudamericana, dem südamerikanischen Gegenstück zur Europa League. Im Endspiel geht es für die Brasilianer gegen die Kolumbianer von Atlético Nacional, die ein halbes Jahr zuvor die noch wichtigere Copa Libertadores gewonnen haben. Chapecoense feiert schon vor dem Finale, denn es steht bereits fest: Im kommenden Jahr spielt der Klub, der erst seit 2014 erstklassig ist, zum ersten Mal in eben jener Copa Libertadores, der südamerikanischen Champions League.

Doch dann kommt das Schicksal. Am 28. November 2016, auf dem Weg zum ersten Finalspiel, stürzt das Flugzeug mit der Mannschaft in den Anden in Höhe der bolivianischen Stadt Santa Cruz de la Sierra ab. 71 Menschen sterben, darunter 19 Spieler, Trainer Caio Junior und Präsident Edir de Marco. Wie durch ein Wunder überleben sechs Passagiere, unter ihnen die Spieler Neto, Alan Ruschel und Jackson Follman. Auf Vorschlag des Finalgegners wird Chapecoense kampflos zum Sieger der Copa Sudamericana erklärt, aber wer mag sich darüber schon freuen?

Die Fußballwelt hält den Atem an und trauert. Bei der Totenwache am 3. Dezember rufen 22 600 Zuschauer in der restlos gefüllten Arena Condá: „Vamos, vamos, Chape!“ Irgendwie muss es weitergehen.

Für den Neuaufbau holt Chape, wie die Mannschaft in Brasilien genannt wird, elf Tage nach dem Unfall den Manager Rui Costa. „Stell dir vor, du kommst im einen Verein an, der seine ganze Fußballabteilung verloren hat. Da kannst du die Sachen einfach nicht nüchtern und analytisch behandeln“, sagt Costa, der früher Manager bei Gremio Porto Alegre war. Als Trainer engagiert er den ehemaligen Profi Vagner Mancini, auch er hat früher für Gremio gearbeitet. „Es ist der schwerste Job meines Lebens“, sagt Mancini. „Als ich ankam, gab es nichts, keine Spieler, keine Mitarbeiter.“ In den ersten Tagen nach der Katastrophe ist die Stadt wie paralysiert. Auf dem Klubgelände läuft Costa immer wieder weinenden Menschen über den Weg.

Chapecoense bekommt von vielen anderen Klubs Spieler angeboten, aber der Neuaufbau gestaltet sich kompliziert. Aus einem Pool von 90 Profis engagiert Costa 24 in der überwiegenden Mehrheit junge und unbekannte Spieler. Es steht nur ein bescheidenes Budget zur Verfügung – rund 900 000 Euro, die nach der Katastrophe durch Spenden zusammenkamen, gehen an die Familien der Opfer und Überlebenden. „Chapecoense hat nichts geschenkt bekommen, sagt Costa. „Die anderen Klubs haben uns wegen der Aufmerksamkeit als ein großes Schaufenster gesehen. Viele wollten einfach nur Spieler loswerden, die sie ohnehin nicht brauchten. Der Fußballmarkt hat Chapecoense vor allem als Geschäftspartner betrachtet. Das klingt hart, aber es ist die Wahrheit.“

Mittlerweile trainieren die Verunglückten Neto und Ruschel sogar wieder

Am 6. Januar, also nicht mal zwei Monate nach dem Absturz, nimmt der neue Kader das Training auf. Langsam begannen die Meisterschaften – zunächst die Regionalmeisterschaft vom Bundesstaat Santa Catarina, dann die Süd-Rio-Minas-Liga. Später die Copa Libertadores.

Mittlerweile trainieren sogar die Verunglückten Neto und Ruschel wieder. Sie brauchen natürlich Zeit, um sich von dem Flugzeugabsturz zu erholen, aber Trainer Mancini meldete sie trotzdem für die Copa Libertadores. Sogar Torwart Follman, der beim Absturz ein Bein verloren hat, kommt im Rollstuhl mit seinem Trikot auf den Platz. Das Engagement der drei Überlebenden soll die neuen Kollegen motivieren.

Radiomoderator Rafael Henzel, der einzige von 21 Journalisten, der den Absturz überlebte, ist auch wieder dabei. „Mein Leben wird gerade wieder aufgebaut, wie das Leben von Chape“, sagt er dem Tagesspiegel. „Ich kann fast alles machen, was ich vor dem Unfall gemacht habe.“ Auch beim ersten Copa-Libertadores-Spiel der Klubgeschichte sitzt er vor dem Mikrofon. Das ist am 8. März im venezolanischen Zulia. Unmittelbar bevor Chapes Reinaldo das erste Tor schießt, ruft Henzel: „Ich bin dein linker Fuß!“ Nach dem 2:1-Sieg jubeln die Spieler, als hätten sie gerade die Meisterschaft gewonnen.

Die neue Mannschaft führt die Mission der alten weiter. Als eine Woche später das Heimspiel gegen den argentinischen Meister Lanús 1:3 verloren geht, schlägt die Stimmung um. Die Fans kritisieren ihre Mannschaft, zaghaft, aber nicht zu überhören. Ein Zeichen dafür, das so etwas wie Normalität zurückkehrt. Am Wochenende darauf spielt die neue Mannschaft geradezu sensationell auf. Gegen Tubarao gibt es in der Regionalmeisterschaft ein 7:0, es ist auf diesem Niveau der höchste Sieg der Klubgeschichte. Drei Tore schießt Wellington Paulista, der früher in Spanien bei Alavés und in England bei West Ham unter Vertrag stand. „Die Stimmung hat sich total verändert, wir haben das sehr schnell geschafft“, sagt Paulista. „Natürlich werden wir unsere gestorbenen Kollegen nie vergessen, aber das Leben muss weitergehen.“

Trainer Mancini kann kaum glauben, dass die neue Mannschaft schon so weit ist. „Niemand hätte erwartet, dass wir so schnell wettbewerbsfähig sein könnten“, sagt er. „Und doch müssen wir uns noch verbessern, um in der Ersten Liga zu bestehen.“ Manager Costa stimmt zu: „In diesem Jahr wollen wir die Voraussetzungen dafür schaffen, dass wir 2018 wieder auf höchstem Niveau spielen können. Das heißt: Wir wollen nicht absteigen und eine würdige Copa Libertadores spielen.“

Mit ein wenig Glück kann Chape sogar einen weiteren großen Titel gewinnen. Wie in Europa spielen die Sieger der beiden kontinentalen Wettbewerbe einen Supercup aus. Im August trifft Chapecoense als Sudamericana-Champion auf den Libertadores-Sieger Atlético Nacional. Jene Mannschaft, die nach der Katastrophe im November die Copa Sudamericana kampflos an Chapecoense übergab. „Eine unglaubliche Geschichte“, sagt Chapes Manager Costa. „So etwas hat es auf der Welt noch nicht gegeben.“

Fabio Correa

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