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Sport: Brasilien leidet mit Ronaldo

Rio de Janeiro - Der Sündenbock war schnell gefunden. „Der Walfisch muss raus“, kreischte das 17-jährige Mädchen und hieb mächtig auf ihre Blechtrommel.

Rio de Janeiro - Der Sündenbock war schnell gefunden. „Der Walfisch muss raus“, kreischte das 17-jährige Mädchen und hieb mächtig auf ihre Blechtrommel. Ihre Freundin stimmte ein: „Parreira! Nimm Moby Dick raus.“ Adressat der Beschimpfungen, die vergangenen Dienstag während des Spiels Brasilien gegen Kroatien vor einer Kneipe in Rio de Janeiros Stadtteil Maracanã ausgestoßen wurden, war Brasiliens Stürmerstar Ronaldo. Als Trainer Alberto Parreira im fernen Berlin den Wunsch der beiden Teenager in der 70. Minute erhörte, ging ein zustimmendes Raunen durch die gelb-grün bemalte Zuschauerschar.

170 Millionen Brasilianer litten zwei Halbzeiten mit ihrer Seleção, die sich gegen die forschen Kroaten alles andere als weltmeisterlich präsentierte. Doch allein ein Mann zog ihren Unmut auf sich: Ronaldo. „70 Minuten Unbeweglichkeit und Apathie“ fasste eine große brasilianische Tageszeitung die Leistung des übergewichtig wirkenden 29-Jährigen unter dem Titel „S.O.S. Ronaldo“ zusammen.

Seitdem kennt Brasilien nur ein Thema: Was ist los mit dem Phänomen? Soll er gegen Australien auflaufen – es wäre seine 100. Partie im kanariengelben Trikot – oder sich in psychiatrische Behandlung begeben? Trainer Parreira stellte sich nach dem Spiel demonstrativ hinter seinen Stürmer. „Leute, Ronaldo hat seinen Rhythmus noch nicht gefunden. Ist doch völlig normal.“ Doch die Spekulationen um den Zustand Ronaldos hat er damit nicht beendet.

Die Leidensgeschichte des Ronaldo Luíz Nazário de Lima lässt in Brasilien bereits Erinnerungen an die Weltmeisterschaft 1998 wach werden. Damals hatte Ronaldo kurz vor dem Finale gegen Frankreich einen Schwächeanfall erlitten – und war trotzdem aufgelaufen. Während des Spiels stand er dann völlig neben sich. Bis heute hält sich das Gerücht, Ronaldos Werbepartner Nike habe die Aufstellung des Stars erzwungen. Ähnliche Vorwürfe werden nun wieder laut. Angeblich soll es Verträge geben, die dem Sportartikelhersteller garantieren, dass Ronaldo bei jeder Partie mindestens bis in die zweite Halbzeit hinein spiele.

Nun hat sich Ronaldo selbst zu Wort gemeldet und sich über den „enormen Druck“ beklagt, der auf ihm laste. Zur zweiten Halbzeit in Berlin sei er zu spät gekommen, weil er noch auf die Toilette musste. Und außerdem: „Es ist nicht leicht, Ronaldo zu sein.“ Weil viele Brasilianer das eingesehen haben, wendet sich das Blatt. Die Profis des Vereins Flamengo, der mit 33 Millionen Anhängern die größte Fangemeinde der Welt hat, zeigten während ihres Trainings in Rio ein Spruchband: „Ronaldo, die Nation liebt Dich.“ Sollte das Phänomen allerdings heute kein Tor erzielen, dürfte dieselbe Nation ihn wieder als Meeressäuger beschimpfen.

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