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Cafu, 44, spielte von 1990 bis 2006 für die Nationalelf Brasiliens. Er nahm als einziger Spieler an drei WM-Finals teil (1994, 1998 und 2002) und wurde 2002 in Yokohama durch einen Sieg über Deutschland.

© Imago

Brasiliens Fußballlegende Cafu im Interview: "Wir brauchen mehr Stars als nur Neymar"

Cafu sah das 1:7 im WM-Halbfinale gegen Deutschland mit eigenen Augen im Stadion von Belo Horizonte. Brasiliens Fußballlegende über die Kritik danach und die Zukunft der Seleçaõ.

Cafu, früher haben sich die Leute gegenseitig gefragt: Wo warst du, als Kennedy erschossen wurde? Heute lautet die Frage...

... wo warst du am 8. Juli 2014? Richtig?

Genau: beim WM-Halbfinale in Belo Horizonte, beim Spiel des Jahrhunderts, dem 7:1-Sieg der deutschen Mannschaft über Brasilien. Wo waren Sie?

Ich war natürlich im Stadion. Ich habe alle brasilianischen Spiele bei der WM live gesehen, und nach Belo Horizonte ist es ja nicht so weit von mir zu Hause in Sao Paulo. Also, ich habe schon angenehmere Abende verbracht. Die Deutschen haben verdient gewonnen, sie sind auch verdient Weltmeister geworden. Reicht Ihnen das?

Nicht ganz. Für Brasilien war es ja nicht nur eine Niederlage in einem Fußballspiel. Es war die Demütigung einer Nation, die sich lange Zeit über den Fußball definiert hat. Lässt sich gut acht Monate später schon darüber urteilen, wie dieser 8. Juli 2014 einmal nachwirken wird?

Es wird immer ein ganz spezieller Tag sein, für euch Deutsche, aber natürlich auch für uns Brasilianer, ja wahrscheinlich für die ganze Welt. Aber ich weigere mich, den brasilianischen Fußball auf dieses eine Spiel zu reduzieren. Brasilien ist mehr und wird auch immer mehr sein.

Die Deutschen haben das Spiel als surreal empfunden. Wie haben Sie es empfunden?

Als surreal. So ein Spiel wird es erst wieder in hundert Jahren geben, wenn überhaupt. Bei uns ist alles schief gelaufen, die Deutschen haben alles richtig gemacht. Der Fußball steht wie kein anderes Spiel dafür, dass das Unmögliche eben doch möglich ist. Diese Weisheit ist nicht von mir, sondern von meinem Landsmann, dem Schriftsteller Nelson Rodrigues.

Ist das ein Trost?

Nein.

Seit diesem 8. Juli ist Brasilien für viele Fans nicht mehr das Land, das fünfmal die WM gewonnen hat. Sondern die Mannschaft, die 1:7 gegen Deutschland verloren hat.

Dieser Wirklichkeit müssen wir uns stellen. Und gleichzeitig Kraft aus der Vergangenheit schöpfen und damit Verheißung für die Zukunft. Wir sind immer noch fünffacher Weltmeister und nicht der Ex-Fünffachweltmeister.

Bayern Münchens brasilianischer Nationalspieler Dante sagt, für ihn markiere dieses Spiel auch im persönlichen Umgang einen Wendepunkt. Seit dem 1:7 werde ihm mit sehr viel weniger Respekt begegnet. In Brasilien, aber auch in Deutschland.

Über Dantes Reputation in Deutschland steht mir kein Urteil zu. Ich kann nur sagen, dass er ein großer Spieler ist und zu Recht bei der WM dabei war. Und was die Kritik in Brasilien betrifft: Das ist eben Teil unserer Kultur. Bei uns zählt nur der Sieg, alles andere ist eine Katastrophe. Ich war 1998 bei der WM in Frankreich dabei. Wir haben ein sehr gutes Turnier gespielt, sind ins Finale gekommen und haben da gegen Frankreich verloren. Immerhin, wir waren Vize-Weltmeister. Aber was glauben Sie, was bei uns zu Hause los war? Wie wir beschimpft worden sind? Kein Brasilianer erkennt den Wert eines großen Spielers an, wenn dieser große Spieler verloren hat.

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Die Kritik am brasilianischen Fußball reduziert sich ja nicht allein auf dieses 1:7, da sind viele strukturelle Probleme nur besonders deutlich zum Ausdruck gekommen: der Mangel an Fantasie und taktischer Disziplin, die fehlende individuelle Qualität. Der frühere deutsche Nationalspieler Paul Breitner hat über das brasilianische WM-Team gesagt: Diese Spieler sollten sich nicht einbilden, sie seien Brasilianer, nur weil sie aus Brasilien kommen. Wohin führt der Weg der größten Fußballnation der Welt?

Lassen Sie uns mal die kommenden Jahre abwarten. Ich lebe in Brasilien und habe einen ganz guten Überblick über die Arbeit an der Basis, über die Talente, die nachkommen. Unser Problem bei der WM 2014 war, dass wir nur einen echten Star hatten, nämlich Neymar. Früher spielten fünf oder sechs Spieler dieser Qualität in der Nationalmannschaft. Dahin müssen wir wieder zurückkommen, und ich bin da optimistisch. Glauben Sie mir, Brasilien steht vor einer brillanten Zukunft.

Das klingt nicht nach einer kritischen Auseinandersetzung.

Ich habe nicht gesagt, dass alles gut ist. Wissen Sie, was mir manchmal fehlt? Der unbedingte Wille, alles für sein Land zu tun. Der Stolz, das Trikot der Nationalmannschaft zu tragen. Das ist wahrscheinlich ein globales Phänomen, aber ein Land wie Brasilien trifft es härter als euch Europäer. Früher haben sich die jungen Spieler in ihren Klubs für die Nationalmannschaft empfohlen und dort für einen Vertrag in Europa. Heute verlassen viele schon in ganz jungen Jahren ihre Heimat, sie werden im Ausland zu Nationalspielern. Dante und Luiz Gustavo waren in Deutschland bekannter als bei uns in Brasilien, als sie zum ersten Mal für die Seleção spielten. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich will damit nicht sagen, dass solche Spieler schlechtere Brasilianer sind, auf gar keinen Fall! Aber der Zusammenhalt, wie wir ihn früher gespürt haben, ist ein wenig verloren gegangen.

„Da kann doch keiner ausschließen, dass auch Scolari noch einmal zurückkehren wird“

Sie waren 2002 in Yokohama dabei, als Brasilien das WM-Finale 2:0 gegen Deutschland gewann und zum bislang letzten Mal Weltmeister wurde. Trainer damals wie an jenem 8. Juli 2014 in Belo Horizonte war Luiz Felipe Scolari. Was bedeutet es für Sie persönlich, dass seine Trainerkarriere auf diese Weise zu Ende gegangen ist?

Scolari wird nie seinen Zauber verlieren. Er ist ein großartiger Trainer, der das Pech hatte, an diesem einen Tag die Verantwortung zu tragen. Wie gesagt, so etwas passiert einmal alle hundert Jahre. Und was meinen Sie mit dem Ende seiner Karriere? Scolari arbeitet weiter, zurzeit bei Gremio in Porto Alegre.

Aber seine Zeit in der Nationalmannschaft ist vorbei.

Da wäre ich mir nicht so sicher. Schauen Sie zurück auf 2010, auf Südafrika. Dort hat Brasilien unter Carlos Dunga eine wirklich sehr unglückliche WM gespielt und ist schon im Viertelfinale gegen Holland rausgeflogen. Dunga hat es gleich nach dem Spiel im Hotel erwischt, und er ist dann noch Wochen und Monate beschimpft worden. Und jetzt? Ist er wieder da. In der Nationalmannschaft, und sie eilt unter ihm von einem Sieg zum nächsten. Da kann doch keiner ausschließen, dass auch Scolari noch einmal zurückkehren wird.

Dunga hat lange in der Bundesliga gespielt. Macht er den brasilianischen Fußball ein bisschen deutscher und damit erfolgreicher?

Das hat er 2010 versucht, mit bekanntlich nicht ganz so großem Erfolg. Ich glaube, wir sollten das brasilianische Element nicht vernachlässigen. Der brasilianische Fußball ist immer etwas ganz Besonderes gewesen, und wir sind ja nicht zufällig fünfmal Weltmeister geworden.

Als einziger Spieler, der dreimal hintereinander in einem WM-Finale stand, könnten Sie sicherlich auch ein wenig beitragen zu einer Renaissance des brasilianischen Fußballs. Wären Sie gern Trainer?

Nein. Also: heute jedenfalls nicht. Schauen sie sich doch an, wie die Öffentlichkeit in Brasilien mit Carlos Dunga umgegangen ist. Er war Kapitän der Mannschaft, die 1994 in den USA Weltmeister wurde. Ein großartiger Spieler und Charakter. Dann hatte er als Trainer bei der WM 2010 keinen Erfolg, und niemand hat mehr an seine großen Verdienste um Brasilien gedacht. Er war einfach nur der Mann, unter dem Brasilien ausgeschieden ist. Ich möchte nicht, dass die Menschen mal so über mich reden. Ich genieße Respekt für das, was ich erreicht habe, und so soll es auch bleiben. Außerdem hätte ich auch gar keine Zeit für einen Trainerjob.

Womit vertreiben Sie sich denn so die Zeit?

Ich kümmere mich um meine Stiftung, die betreut 750 Kinder in Sao Paulo. Wir bieten zum Beispiel Computerkurse an, bereiten junge Leute auf das Berufsleben vor und tun unser Bestes, um sie in die Gesellschaft zu integrieren. In dieser Hinsicht gibt es in Brasilien noch einiges zu tun.

Auch aus diesem Grund stand die WM 2014 im Fokus der Kritik. Viele Brasilianer waren der Meinung, das viele schöne Geld wäre besser in Krankenhäuser und Schulen angelegt worden denn in Fußballstadien. Wie empfindet Brasilien diesen Gegensatz acht Monate nach dem Turnier?

Brasilien steht immer noch vor gewaltigen Herausforderungen. Bildung, Gesundheit und Sicherheit – unsere Probleme auf diesen Feldern sind durch die WM nicht gelöst worden. Auf der anderen Seite dürfen Sie nicht unterschlagen, was Brasilien dadurch gewonnen hat, dass die Welt bei uns zu Gast war. Unser Land ist moderner geworden und hat eine bessere Infrastruktur. Viele Städte, die früher von der Bedeutung her und auch geographisch an der Peripherie lagen, haben einen großen Sprung gemacht. Das Land ist enger zusammengerückt. Cuiabá etwa hat 25 Jahren auf den Ausbau des Flughafens gewartet, erst durch die WM ist er gekommen.

2006 hat die Weltmeisterschaft den Deutschen geholfen, sich als Nation neu zu entdecken und zusammenzufinden. In Brasilien sah es angesichts der gewaltigen Demonstrationen vor allem beim Confed-Cup 2013 eher so aus, als würde die WM das Land spalten.

Das sehe ich ganz anders. Ich will die Demonstrationen nicht kleinreden. Aber Brasilien ist ein Land, in dem immer und viel demonstriert wird. Das ist ein gesunder Ausdruck von Demokratie, wenn die Leute für ihre Interessen und Rechte auf die Straße gehen. Auch jetzt, während wir hier zusammensitzen, wird bei uns zu Hause demonstriert, aber es bekommt sonst keiner mit auf der Welt, weil die internationale Presse eben nur selten da ist. Im Vorfeld waren die einen für die WM und die anderen dagegen, aber als das Turnier dann erst einmal begonnen hatte, standen alle Brasilianer geschlossen hinter unserer Mannschaft.

Spätestens im Finale in Rio de Janeiro war sich ganz Brasilien ohnehin einig – für Deutschland und gegen Argentinien.

Natürlich! Erstens haben wir ein, nun ja, spezielles Verhältnis zu unseren argentinischen Nachbarn. Und zweitens ein sehr gutes Verhältnis zu den Deutschen.

Sie selbst haben dreimal mit der Nationalmannschaft gegen Deutschland gespielt. Jeder erinnert sich an das WM-Finale 2002. Aber wissen Sie noch, wie es 1998 in Stuttgart ausgegangen ist?

Hmm, unentschieden? 1:1? Nein, 2:1 für uns, Ronaldo hat kurz vor Schluss das Siegtor geschossen und Dunga ist mit Gelb-Rot vom Platz geflogen. So, das war das zweite Spiel. Und da war noch ein drittes … tut mir leid, ich komme nicht drauf.

1993, in Washington.

Jetzt weiß ich es wieder! Wir haben zur Halbzeit 3:0 geführt, und dann ging es 3:3 aus. Es war am Anfang meiner Karriere, ich bin erst spät eingewechselt worden und stand noch bei zwei Gegentoren auf dem Platz. Ja, ja, man darf die Deutschen halt nie unterschätzen, diese Lektion habe ich schon sehr früh gelernt.

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