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Sport: Büro statt Babyflasche

Der 40-Jährige Silvio Martinello will bei seinem letzten Sechstagerennen unbedingt gewinnen

Berlin. Heute wird der 40-jährige Silvio Martinello das letzte Mal aus einem Babyfläschchen trinken und von erwachsenen Männern abgetrocknet. Ein paar Mal werden die Betreuer den Italiener noch zwischen den Rennen mit dem Handtuch bearbeiten, damit er selbst keine unnötige Energie vergeudet, und die bruchfeste Flasche – freilich ohne Sauger – aufs Rad reichen, die sich so gut in den Hosenbund klemmen lässt. 96 Sechstagerennen hat Martinello bestritten, 28 Siege errungen, 16 davon mit Marco Villa. Mit ihm rast er heute, in der Abschlussnacht des Berliner Sechstagerennens, das letzte Mal in seiner Profikarriere mit über 50 km/h um die 250 Meter lange Bahn. Rund 51 Kilometer wird er allein in der Großen Finaljagd über 60 Minuten zurücklegen, im Kampf um seinen fünften Sieg beim fünften Auftritt in Berlin. Dann, gegen Mitternacht, ist Schluss. Endgültig. „Am Mittwoch ändert sich mein Leben“, sagt Martinello.

Mit seiner Frau und den drei Kindern, die zur großen Abschiedsparty für Martinello nach Berlin kommen, fliegt er am Mittwoch zurück nach Italien. Der erste Tag seines neuen Lebens wird unspektakurlär verlaufen. „Ich gehe ins Büro, es soll sofort losgehen“, sagt Martinello, der bei Padua ein Fitness- und Beautycenter besitzt. Wehmut soll sich gar nicht erst einschleichen.

Martinello beendet seine Karriere nicht etwa, weil es ihn frustriert, dass Kollegen ihn abhängen, die bei seinem ersten Sechstagerennen gerade Radfahren lernten. Er fährt allen davon, immer noch. Nach dem vierten Tag lag er in Berlin auf Platz zwei, rundengleich mit den führenden Schweizern Bruno Risi und Kurt Betschart. „Ich will aufhören, wenn ich ganz oben bin, nicht, wenn ich vom Rad falle“, sagte er am Samstagabend. Zwei Stunden später stürzte er bei der Großen Jagd tatsächlich, schrammte sich den rechten Arm und das rechte Bein auf – und fuhr mit zwei dicken Verbänden um Knie und Ellbogen weiter. Aufgeben, niemals. Ein solcher Abschied wäre eines Martinellos unwürdig gewesen.

Der Mann ist Olympiasieger, fünffacher Weltmeister und mehrfacher Etappensieger des Giro d’Italia. 28 Sechstagesiege hätte er sich nie erträumen lassen. Vor allem nicht nach seinem ersten Auftritt 1986 in Gent an der Seite von Maurizio Bidinost. „Wir sind Neunter geworden und hatten 41 Runden Rückstand“, erinnert sich Martinello an das Debakel. Er bewunderte damals den Australier Danny Clark, der 74 Sechstagerennen gewann und nebenbei gleich das Rahmenprogramm der Sixdays bestritt. Zur Gitarre sang er für die tobenden Zuschauer Westernlieder. „Er war eine Legende“, sagt Martinello. Nun wird er selber eine, und ein bisschen singt er sogar. Wenn auch nur „Volare“ auf der Sechstage-CD.

Martinello war der Chef der Sechstagefahrer, „dazu braucht man Grips“, sagt Berlins Sportlicher Leiter Otto Ziege, „er hat das Feld zusammengehalten“. Bei Fragen zu Prämien vermittelte er zwischen Fahrern und Rennleitung. Freuen sich die Kollegen, dass ein übermächtiger Kontrahent abtritt? „Nein, man hat immer versucht, ihn ein bisschen zu ärgern“, sagt Andreas Beikirch, der mit Andreas Kappes als Vierter noch um den Sieg kämpft. Doch Silvio Martinello will sich nicht ärgern lassen. Auf seinem Trikot prangt die Startnummer eins. Erster möchte er auch werden, unbedingt. Ein letztes Mal.

Helen Ruwald

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