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BVB-Phänomen "Borsti": Eine Fahne, größer als der Meister

Dortmund schläft seinen Rausch aus, der fanatische Fan "Borsti" sortiert sich neu. Gefangen im eigenen Narzissmus erlebt er den Triumph seines Klubs "nicht nur positiv". Ein Besuch bei einem Grenzgänger - und seiner Fahne.

Im Moment des absoluten Triumphs habe er sich „schön dezent“ an den Zaun zu Block 14 zurückgezogen, er habe das Ganze „für sich“ genießen wollen, sagt Borsti und bedient unwillkürlich das Bild des einsamen Franz Beckenbauer 1990 auf dem Rasen von Rom. Borsti bedient an diesem sonnigen Nachmittag vor einem Café auf dem Frankenberger Obermarkt generell viele Bilder, die aus der Ikonografie des Fußballs bekannt erscheinen: das Bild vom Vater, der den Sohn mit ins Stadion nimmt und sich dafür später selbst ohrfeigen könnte. Von der Goldenen Hochzeit und der Beerdigung, die fluchtartig verlassen wurden, um ein Spiel zu sehen. Über allem aber: das Bild vom Fan und seiner Fahne. Borstis Bild von Borsti. Sein Selbstbild.

Die Suche nach dem wahren Fan führt nach Frankenberg an der Eder: Hier, in der nordhessischen Provinz, residiert einer, den man – zumindest als BVB-Anhänger – irgendwie kennt, auch wenn man ihn nicht kennt: Seitdem Fabian Ludwig im Sommer vor neun Jahren auf die Idee kam, seinen Spitznamen schwarz auf gelb zu nähen, hängt die Fahne mit dem „Borsti“-Schriftzug bei fast jedem Bundesligaspiel der Dortmunder Borussia, fast jedem Pokalspiel, bei A-Jugend-, Regionalliga- und Länderspielen am Zaun, sie hing auf der Chinesischen Mauer und an der Rialtobrücke, vor dem Burj al Arab, in Stonehenge und in den Stadien der Weltmeisterschaft in Südafrika.

In Dortmunds Arena, die Borsti trotz Sponsorennamens konsequent Westfalenstadion nennt, hängt sie am Unterrang der Westtribüne, „TV-gerecht“, sagt Borsti, und dass man nach einer Zeit ja durchaus den Ehrgeiz entwickele, sichtbar zu sein. Borsti, drahtiger Typ mit furchterregend hellen Augen im braun gebrannten Gesicht, nimmt einen kleinen Schluck von seiner kleinen Sprite und in dieser Aussage, dieser Geste und diesem Äußeren steckt bereits viel von dem, was einen wie Borsti von denen, die Borsti mit fast unmerklicher Herablassung „Sympathisanten“ nennt, unterscheidet: Fanatismus gehört dazu, daneben Askese und Narzissmus, jedes für sich eine Eintrittskarte in eine andere Welt.

Borstis erster Kontakt mit dieser Welt vollzog sich am 5. Mai 1990, da war der Siebenjährige zum ersten Mal im Stadion, klassisch an der Hand des Vaters. Es dauerte dann noch einmal drei Jahre, ehe die Liebe voll entbrannte, und noch einmal vier, ehe sie, nach dem Champions-League-Sieg der Dortmunder anno 1997, für eine Zeit abflachte. 2002 folgte die Erfindung der Fahne und seitdem gibt es für Borsti kein Zurück aus dieser anderen Welt der Hochleistungsfans: Seitdem trinkt er immer weniger Alkohol, seitdem besteht sein Privatleben zu großen Teilen aus der Planung, Durchführung und sorgsamen Archivierung von Fanreisen, seitdem hat der gelernte Holztechniker mit der Durchsetzungsstärke und Kreativität einer Führungskraft keinen Job länger als zwei Jahre gehabt, was Borsti erstaunlicherweise erstaunt. Seitdem füllt sich die Excel-Tabelle am PC in der schwarz-gelben Einliegerwohnung im Haus der Eltern mit Einträgen zu den einzelnen Spielen. Seitdem füllen sich Kartons mit selbst gestalteten Aufklebern und seitdem verliert der Vater ein bisschen das Interesse am Fußball, aber das ist eine andere Geschichte.

Was an Borstis Geschichte auffällt, sind die Stichtage, die er nennt – für Borussia Dortmund nicht übertrieben glamouröse Jahreszahlen wie 1990, 2001 oder 2005 – als sich Borsti in Reaktion auf die sportliche und wirtschaftliche Krise des BVB einen „Ultras Dortmund“-Schriftzug in den Rücken tätowieren ließ. „Treue und Leidenschaft gegenüber dem Verein sind während Negativserien viel wichtiger“, sagt Borsti, der nach dem Gewinn der Meisterschaft „in Zivil“ zur Arbeit ging und dem Fußball und Fansein merklich zu wichtig sind, um Spaß machen zu können, und der deshalb nach höheren Worten strebt: „Leidenschaft“, „Treue“, aber auch „Ehre“, „Stolz“ und vor allem „Dankbarkeit“ gehören dazu, letztere interessanterweise nicht primär gegenüber herausragenden Spielern und Mannschaften, sondern gegenüber anderen Fans und Fangruppen, "die mich auf meinem Weg begleitet haben". Ein Gespräch mit Borsti enthüllt Pathos- und Tiefendimensionen, die der Blick auf eine Fahne mit lustigem Namen so erst einmal nicht ahnen lässt.

Und doch ist die Fahne nur allzu oft das Zentrum der von Borsti im heiligen Ernst vorgebrachten Geschichten rund um Freund- und Feindschaft, um Kampf und Versöhnung. Geschichten wie jene vom Frühjahr 2010, als Mitglieder einer Dortmunder Ultra-Gruppierung, mit der Borsti - darauf legt er viel Wert - heute längst wieder versöhnt ist, die mit dutzenden Knoten und mehreren Lagen Panzerband „festgeballerte“ Fahne im Rahmen einer Mutprobe vom Avus-Motel in Berlin rissen; als Borsti sich die Fahne während des Auswärtsspiels gegen Hertha BSC aus dem Bus dieser Gruppe holte; als der Busfahrer, der die Fahne rausrückte, später behauptete, Borsti habe mit Polizei gedroht; als die Gruppe aufgrund dieser groben Verletzung des Ultra-Kodexes über Borsti ein „Dortmund-Verbot“ verhängte und als sich die rechtsradikale „Borussenfront“ Borsti als Schutzmacht andiente; schließlich, und das ist die unschöne Seite dieser sommerlichen Fangeschichte, die aber gerade jetzt, im Nachdunst der bundesweiten Dortmund-Seligkeit, erzählt werden muss: als Borsti sich von zwei Mitgliedern der rechten Hooligan-Organisation zum Stadion geleiten ließ. Einen der Begleiter nannten sie Goebbels.

Aber nein, sagt Borsti, der seine Thor-Steinar-Hose „nur wegen der Qualität“ gekauft haben will, mit rechter Politik habe er nichts am Hut, „da hätte ich auch gar nicht die Zeit zu“. Seine Liebe gelte dem Verein und denen, die ihn lieben, und natürlich, und vielleicht ist das zentraler, als Borsti es sich selbst eingestehen würde, wolle man unter den Fans etwas gelten: Als der berüchtigte Neonazi Siegfried Borchardt alias „SS Siggi“ sich bei einem Länderspiel neben ihn setzte, habe er nur „Wahnsinn!“ gedacht.

Wie könnte man nun für einen wie Borsti die Logik des fanatischen Fanseins, auf der derartig katastrophale Loyalitäten gründen, durchbrechen? Vielleicht ja, indem man ihm, zu dessen Selbstbild es maßgeblich gehört, mit der Fahne in schlechten Zeiten „trotzdem“ da zu sein, den Spaß am Selbstopfer nimmt. Am Tag, als Dortmund die Meisterschaft gewann und Borsti innere Einkehr suchte, ist das bereits gelungen. An dem Tag sei es „komisch“ gewesen, sagt Borsti, gar „nicht mal nur positiv“: „Du hast dann so Tagestouristen da, die hast du noch nie da gesehen, und dann gehen die ab wie verrückt und die wissen in dem Moment gar nicht, was es dir bedeutet.“

Was es ihm tatsächlich bedeutet, weiß allein Borsti selbst. „Alles“, sagt Borsti, der mit dem Verein „jede Emotion“ verknüpfen kann und trotzdem zur Winterpause darüber scherzte, dass er, wenn Dortmund Meister und „Gelsenkirchen“ absteigen würde, seine Karriere als Allesfahrer aufgeben könnte. Doch so weit sei es ja nicht gekommen. „Zum Glück.“

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