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Christian Stäblein sprach in seiner Rede auch ernste Themen an, wie zum Beispiel den Missbrauch von Kindern durch Geistliche.

© Gregor Fischer/dpa

Christian Stäblein: Die erste Predigt von Berlins neuem Bischof

Am Sonnabend trat Christian Stäblein sein neues Amt als Landebischof an. Wir veröffentlichen die Vorabfassung seiner ersten Predigt.

Diese Geste hier: Finger aneinander, Handflächen leicht gekrümmt, machen Sie das auch manchmal? Aus Neugier, womöglich auch ein bisschen Ungeduld? Vielleicht unbewusst oder erwartungsfroh, ja gar sehnsüchtig – könnte ja sein, Sie machen das auch, bisher wusste ich nicht so genau, warum ich das mache, jetzt ist es mir klarer. Ich habe mir einen Clip dazu angesehen, da tanzt praktisch ein ganzes Haus zu einem alten Schlager, sie machen immerzu diese Geste.

Das ist herrlich, so viel Lebensfreude, Glück, Frieden, unglaublich. Naja, jetzt habe ich das Ende der Predigt schon vorweggenommen. Macht nichts, das macht der Psalm, den wir eben gehört haben, ja auch. Vorwegnehmen, wie es ausgeht, das steht da schon: Güte, Treue bei Gott. Aber nun – von Anfang an: Gnade sei mit Euch, liebe Gemeinde, hier in St. Marien, drüben im Dom und zu Hause oder wo immer Sie sind, Gnade sei mit Euch und Frieden von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.

Markus Dröge (r) in der Berliner Marienkirche nimmt Christian Stäblein das Propstkreuz ab.
Markus Dröge (r) in der Berliner Marienkirche nimmt Christian Stäblein das Propstkreuz ab.

© Christian Ditsch/epd-Pool/dpa

Wieder und nochmal, und immer wieder ein wenig angefasst, eine Zeitlang hatte ich das Buch auf dem Nachttisch, das fliegende Klassenzimmer von Kästner, dem Dresdener, also wenn der Junge in dem Buch, wenn der Martin Thaler am Ende doch nach Hause kommt und seine Mutter kriegt vor Glück kaum ein Wort raus, dieses Ende, wo sie sich haben wider Erwarten, ich gebe zu, da bin ich immer ein wenig angefasst, das kann ich noch mal und noch mal hervorholen seit Kindertagen, ein Buch voller Wiedersehen, so schön, erzähle ich öfter, mancher kennt das schon von mir.

Wieder und nochmal: Das ist ja eine Urform von Leben, von Glück: sich nochmal haben. Etwa auch beim Küssen. Wie komme ich jetzt darauf – na klar: Der Psalm weckt dieses Bild. Wann ist schon in einem Gebet vom Küssen die Rede. Wer denkt da nicht gleich: nochmal. Ob nun die leidenschaftlich Verliebten, die uns bald wieder auf dem Adventsmarkt begegnen, oder der Kranke, der sich nicht bewegen kann, aber die Berührung auf der Hand spürt. Oder der, der sich mit 59 endlich sein Comingout getraut hat.

Das Wiederholen, das Nochmal gehört quasi dazu, immer schon. Rechts links rechts, einmal, zweimal, nochmal – vom Pausenhof bis zum politischen Parkett ein beliebtes Ritual. Auf den Resten der Mauer, East Side Gallery, unweit von hier, ein Kuss zu sehen – sozialistisch-realistisch-brüderlich, ausgerechnet! So viel Falsches da dran.

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Umso echter und herzlicher die Umarmungen in jener Nacht der Öffnung: Ach, komm, noch mal, Ost und West. Das ist ja dieser Tage stark, wenn wieder und wieder das „meines Wissens gilt das unverzüglich“ ins Ohr dringt, wenn auf den Fernsehbildern die Menschen sich noch mal an der Bornholmer Brücke ihren Weg holen, gewaltlos, friedlich, ach, einmal noch.

Nochmal: Das steht auch zwischen und in den Zeilen des Psalms, unüberhörbar fast: Willst Du uns denn nicht wieder erquicken, zeige uns deine Gnade, Gott, der du vormals gnädig gewesen, Gott erlöse wieder. Ja, Gott, bitte nochmal, Güte und Treue beieinander, Gerechtigkeit und Frieden. Was für eine Sehnsucht, der Psalm lebt davon, seit Jahrtausenden diese Sehnsucht, dass Gott das wiederholt, was schon mal war, was er versprochen hat, dass er das wieder holt, sozusagen wieder hervorholt.

Und also, liebe Gemeinde, nicht zum ersten Mal, wahrlich nicht, dass wir uns von diesen Worten anrühren lassen, fest im Gedächtnis die ökumenischen Versammlungen in Magdeburg, in Dresden, Frühling, Herbst, 1989, 146 Delegierte, 19 Kirchen, über 10000 Vorschläge aus den Gemeinden, Vorschläge für eine gerechtere Gesellschaft, weit über unseren Kontinent hinaus. Und ja, womöglich auch im Gedächtnis, dass vor elf Jahren etliche Olympia-Teilnehmerinnen in Peking mit den Psalmworten für die Menschenrechte eintreten, zig kleine schwarze Armbänder reisen nach China, auf denen das steht: Gerechtigkeit und Frieden. Sehnsucht danach macht an keiner Grenze halt.

Stäblein war im April zum neuen Bischof der Evangelischen Landeskirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz gewählt worden. 
Stäblein war im April zum neuen Bischof der Evangelischen Landeskirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz gewählt worden. 

© Christian Ditsch/epd-Pool/dpa

Liebe Gemeinde, aus dem jüdischen Gebet, dem Psalm, lerne ich, auf Gottes Wiederholung zu hoffen. Dass er uns wieder zu sich holt, ja, dass Gott uns zusammen führt mit seinem Frieden. Ach (mach’s) noch mal, Gott, mit Deinem Volk und mit uns. – Also gar keine neue Botschaft heute? Ein kräftiges Nochmal? Was ist das für ein Start?

Aber ja, darum geht es: Vertrauen in Urform: Gott nochmal, bitte genau das. Gerechtigkeit und Frieden ohne Halt von Prignitz bis Görlitz bis Oderbruch, von ökumenisch bis weit über den eigenen Glauben hinaus, dass sich das wiederholt, wir wieder und noch mal miteinander beten, lieber Rabbiner Nachama, liebe Rabbinerin Ederberg, lieber Imam Sanci, für eine Gesellschaft in Frieden, für Gerechtigkeit, auf die man sich verlassen kann. – Puh, kommt man fast aus der Puste? So viel nochmal?

Das kann ja ermüden, wahrlich. Und stimmt auch nicht. Die Geschichte aus dem Buch vom schönen Wiedersehen, aber wie oft kommt doch in Wahrheit niemand mehr nach Hause. Weil kein Engel am Weg stand, sondern ein Laster ohne Schulterblick? Und das Reden vom Küssen, das ist doch oft so falsch, bloß nicht nochmal. Wie oft ist das missbraucht, pervertiert worden, gerade auch von uns, die wir es mit Frieden und Gerechtigkeit verbinden wollten, Menschen der Kirche. Küsse? Unendlich unerträglicher Verrat, Verbrechen.

Wie will ein Mensch wie ich, der für diese Kirche steht, wie kann der noch davon reden, nach all dem Missbrauch, die Menschen, die Kinder. Nochmal hat so kaputt gemacht, so zerstört, alles Reden vom Küssen muss hier enden, verbietet sich. Nicht nochmal!

Liebe Gemeinde, wieder und wieder gebetet dieser Psalm, in Hebräisch von Anbeginn, in so vielen Sprachen seitdem, voller Hoffnung. Unsere jüdischen Geschwister wissen das zu gut. Und immer wieder enttäuscht diese Hoffnung. Der Antisemitismus in unserem Land, oh nein, nicht nochmal, müde dürfen wir nicht werden, dagegen zu stehen, das laut zu machen.

Die Berliner Marienkirche war am Sonnabend gut gefüllt.
Die Berliner Marienkirche war am Sonnabend gut gefüllt.

© Christian Ditsch/epd-Pool/dpa

Im hebräischen Wortlaut des Psalms, liebe Gemeinde, fließt das in einem Wort ineinander: küssen und kämpfen, ja, bitter nötig: kämpfen gegen Übergriffe, Angriffe mit Worten, Taten, all die subtilen Mechanismen der fiesen Wiederholungen.

Nochmal? Nein. Gott, lass mich doch in Ruhe, mag mancher denken, was wird schon versprochen, wie oft haben wir Euch das glauben sollen und immer aber verzögert sich wieder alles. Gott, wann denn? Wie oft denn noch diese Versprechungen, alles würde besser? Einspruch. Ihr müsst halt selber anfangen. Sagt der Psalm, der 85. doch auch: Willst du denn nicht wieder, ja wenn nicht, ja dann … also wer fängt an. Verfl… nochmal, wenn keiner anfängt, wenn doch nichts Neues passiert, kann uns Gott am Ende mal gern haben? Also bitte … – …der Psalm bittet anders, liebe Gemeinde: Könnte ich doch hören, was Gott der Herr redet. Was für eine Sehnsucht, Bitte. Rede, Gott, nochmal. Nochmal neu.

Und Gott fängt an. Immer fängt Gott an. Wie? Ach, wie gut, dass heute Worte in Gebärden gedolmetscht werden. Sie erinnern sich an den Anfang, die Geste, die ich beschrieben habe. Wenn man die mal macht: die Hände bei den Fingerspitzen aufeinander stoßen lassen und die Handflächen dabei leicht krümmen. Das ist in Gebärdensprache die Geste für Küssen. Aber eigentlich, also das Tolle ist: Die Geste sieht aus wie Hände beim Segnen. Mir scheint: Mit dieser Geste lässt sich heute der Psalm übersetzen, nur so, ja so vom Küssen reden ohne Grenzen zu verletzen: Handflächen gekrümmt, Finger zueinander.

So fängt Gott an: Mit Segnen. Sozusagen: Gottes Finger: Spitzen-Berührung. Klingt ungewohnt? Gottes Spitzen-Berührung – muss man, will ich erzählen. Von der Brandenburgerin etwa, die genug hat vom nochmal und nochmal nix, ist halt ne andere Zeit, wa, sagt sie, geht dann los, klappert die Betriebe im Fläming ab, bis sie für alle Geflüchteten einen Ausbildungsplatz findet, Gerechtigkeit, Frieden, ganz konkret, klopft mit den Fingern auf den Tisch, Spitzen-Berührung.

Christian Stäblein hebt feierlich die Hände.
Christian Stäblein hebt feierlich die Hände.

© Christian Ditsch/epd-Pool/dpa

Wie der Nachbar, der sagt, er liest seit 20 Jahren im Hospiz, Potsdam, einfach immer wieder lesen, auch so alte Geschichten wie das fliegende Klassenzimmer, Geschichten vom nach Hause kommen, oder auch Psalmen. Psalmen wieder lesen, die Urform des Glaubens, weil – und dabei stupst er mich vorsichtig an, weil: da kommt Gott vorbei, kurze Berührung, wie Fingerspitzen.

Ich schaue ihn an, er stutzt auch: na klar, schiebt er hinterher, auch kräftiges Zupacken Gottes. Im Sterben fängt er neu an. Gottes Spitzen-Berührung in Jesus Christus. Ein Segen. Die Urform von Gottes Anfang. – Ach, ich war mir gar nicht sicher, ob das so stimmt, liebe Gemeinde, wie ich das mache, diese Geste zum Küssen in Gebärdensprache, ich habe mir deshalb auf Youtube einen kleinen Clip angesehen zu Gebärdensprache. Da findet sich eine buchstäblich bewegende Szene: zwei Frauen dolmetschen einen alten Schlager, kennen alle, nicht wichtig jetzt, geht ja um die Geste, sie machen sie die ganze Zeit beim Tanzen, man ahnt einen vollen Saal und spürt ein tanzendes Segenshaus.

So stelle ich mir das seitdem vor, wenn der Psalm lebendig wird: Segen in einem tanzenden Haus, so stelle ich mir vor, wird das sein. Gott fängt mit Segen an, barrierefrei, gestenstark, Spitzen-Berührung. Ach, Gott, mach‘ noch mal deinen Frieden mit uns. Dass wir gerecht werden miteinander. Dass Gerechtigkeit und Friede sich (küssen/Geste des Bischofs) Segen/ Amen (Geste durch den Gebärdendolmetscher).

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