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Irokese vor Bernstein.

© AFP

Sport: Danzig ist nicht Klagenfurt

Für die EM im nächsten Sommer krempelt sich Polen um. Wer sich in den vier Spielorten umschaut, erlebt Leidenschaft, Optimismus – und Baustaub

Wie macht die Ostsee? Blubb, piff, pschsch. Auf deutsch, auf polnisch: Blubb, piff, pschsch.

Günter Grass, „Kleckerburg“

Die Ostsee ist nur ein paar Kilometer weg, und aus der Luft funkelt die Baltic-Arena wie ein großer Bernstein, vielleicht hat ihn ein Herbststurm in die Sümpfe gespült. Wer mit dem Flugzeug nach Danzig reist, kann das neue, bernsteinfarbene Stadion schwer übersehen. Es liegt am Rande des Stadtteils Wrzeszcz, der früher einmal Langfuhr hieß und Heimat des kleinen Günter Grass war. Sein früheres Wohnhaus im Labesweg 13 gehört zum Pflichtprogramm aller Reisebusse. Grass ist Fußballfan, er hält es mit dem SC Freiburg und seit Jürgen Klinsmann auch mit der Nationalmannschaft. Bei der Europameisterschaft im kommenden Sommer werden die Deutschen in seinem Danzig wohnen. Ein paar Kilometer weit weg von Langfuhr im Vorort Oliva, mitten im Wald neben dem mittelalterlichen Kloster des Zisterzienserordens.

Das Luxushotel Dwor Oliwski ist in diesen Tagen nur über eine holprige Kopfsteinpiste zu erreichen. Wären die Nationalspieler schon da, könnten sie ein wenig von dem nachempfinden, was die Polen durchleiden müssen im Jahr vor der gemeinsam mit der Ukraine ausgerichteten EM. Überall werden alte Straßen aufgerissen und neue gebaut. In Danzig verzweifeln Anfang September zum Gastspiel der deutschen Mannschaft auch ortskundige Busfahrer beim Versuch, einen Weg zu finden durch das Gewirr von Baustellen, Sackgassen und Absperrungen. Die Warschauer Innenstadt bekommt eine neue U-Bahn, und weil sie erst im Jahr 2013 fertig sein soll, kann man sich gut vorstellen, was hier im EM-Sommer los sein.

Aber die neuen Stadien sind wunderschön. Sie tragen sogar individuelle Noten, sofern das in Zeiten sportiver Mainstreamarchitektur möglich ist. Darauf dürfen die Polen stolz sein, in der Hauptstadt Warschau genauso wie in Danzig, Posen und Breslau. 20 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges darf man diese Städte ohne Revanchismusverdacht so nennen und muss sich nicht mehr bei der Aussprache von Gdansk, Poznan und Wroclaw blamieren. „Wie macht die Ostsee? Blubb, piff, pschsch. Auf deutsch, auf polnisch: Blubb, piff, pschsch.“

Das Hauptquartier des Danziger EM-Komitees liegt mitten an der Altstadt, in einem rekonstruierten Bürgerhaus am Langen Markt. Andrzej Bojanowski spricht viel und gern über die Vorzüge seiner Stadt, auch und gerade im Vergleich zum EM-Gastgeber von 2008. „Nichts gegen Klagenfurt“, sagt der stellvertretende Bürgermeister, „aber Danzig ist nicht Klagenfurt, sondern eine Stadt mit tausendjähriger Geschichte.“ Ein Mitarbeiter erzählt, er sei 2008 auf dem Weg zum Stadion am Wörthersee ein paar Kilometer lang durch Maisfelder gewandert, da möge doch bitte keiner über ein paar Baustellen in Danzig klagen. „Wir Polen schaffen das“, sagt Andrzej Bojanowski, „wir haben schon ganz andere Sachen geschafft.“

So ungefähr würde das wahrscheinlich auch Lech Walesa formulieren. Der frühere Gewerkschaftsführer ist als Elektriker auf der Lenin-Werft groß geworden und wohnt noch heute in Danzig. In den achtziger Jahren war er mal bei einem Europapokalspiel gegen Juventus Turin. Im Stadion haben sie „Walesa!“ skandiert und „Solidarnosc!“, worauf das polnische Fernsehen den Ton abdrehte. Aber in Turin war alles zu hören.

Lech Walesa ist Namenspate des Flughafens, für den gerade ein neues Terminal errichtet wird. Wenn denn die Autobahn erst mal fertig ist, benötigt man mit dem Bus eine knappe Viertelstunde zum neuen Stadion. Zum Eröffnungsspiel gegen Deutschland ist es fast ausverkauft. Kurz vor dem Anpfiff betritt der polnische Verbandspräsident Grzegorz Lato den Rasen. In den siebziger Jahren war er mal einer der populärsten Fußballspielers des Landes. Dem Funktionär Lato widmet das Danziger Publikum ein Pfeifkonzert, was gewiss nicht daran liegt, dass der Stürmer Lato 1974 bei der legendären Wasserschlacht von Frankfurt kein Tor gegen die Deutschen geschossen hat. Die Polen mögen einfach keine Funktionäre.

Besonders deutlich wird das in Posen. Die Anhänger von Lech Posen gelten als die leidenschaftlichsten in ganz Polen. Nach einem Europapokalspiel gegen Manchester City kreierten ihre englischen Kollegen für besondere Jubel die Formel: „Let’s do the Poznan.“ Im Spiel gegen Wisla Krakau aber streiken sie. Ihr Protest richtet sich gegen die Regierung von Donald Tusk und deren Vorgehen gegen Polens Hooliganszene. Tusk ist seit seiner Jugend Fußballfan. Nachdem im Mai beim Pokalfinale zwischen Legia Warschau und Lech Posen Wasserwerfer das Spielfeld von Randalierern befreien mussten, mischte er sich ein. Die Regierung Tusk verfügte Stadionsperren und richtete Schnellgerichte ein.

Den Fans geht das zu weit. Sie verweisen auf eine nur unter dem soziologischen Mikroskop erkennbare gewaltbereite Minderheit. „Tusk macht Wahlkampf auf unsere Kosten“, sagt einer im EM-Stadion von Posen. Deswegen bleibt es beim Spiel gegen Wisla Krakau so lange ruhig. Der Sturm bricht unvermittelt los. Die Uhr im Stadion springt um auf 70:00, da hebt ein dumpfes Grollen an hinter dem Tor. Junge Männer in schwarzen Kutten schlagen auf Trommeln und was sonst gerade zur Hand ist. Dass ihre Mannschaft das Spiel gegen den Meister verliert, nehmen sie eher beiläufig zur Kenntnis. An diesem Abend geht es um Wichtigeres.

Die Nomenklatura des polnischen Fußballverbandes PZPN mag das Thema Hooligans genauso wie die Politik Diskussionen über Verkehrsprobleme. „Wenn wir hier in Polen ein Problem haben, dann dürfte niemand mehr nach England fahren“, sagt der stellvertretende PZPN-Vorsitzende Adam Olkowicz. Er redet lieber über Infrastruktur und Nachhaltigkeit, sein Lieblingswort heißt „Schlüsselinvestition“.

Eine dieser Schlüsselinvestitionen liegt im Warschauer Stadtteil Praga, nicht weit weg vom Weichselufer. Wo früher auf einem riesigen Basar in der Ruine des alten Nationalstadions so ziemlich alles gehandelt wurde von geschmuggelten Zigaretten bis hin zu Waffen, wächst heute die modernste Arena Osteuropas in den Himmel. Die Außenhülle ist in den Nationalfarben Rot-Weiß gehalten und erinnert in ihrer Konstruktion an das Pekinger Vogelnest. Das Dach ist einem Regenschirm nachempfunden und schließt innerhalb von zehn Minuten. Der Rasen wird zu Fußballspielen in 9600 Einzelportionen aufgetragen und lagert sonst in einem Treibhaus. Das Nationalstadion ist vorrangig als Businesscenter geplant.

Die feierliche Eröffnung sollte ursprünglich im Test gegen Deutschland erfolgen. Wie optimistisch diese Planung war, wird bei einem Rundgang deutlich. Bauschutt, Dixieklos und Gerüste prägen das Bild. Alle Zufahrtswege harren ihrer Errichtung. Probleme beim Bau der Treppenhäuser brachten die Arbeiten in Verzug. Kein Problem, sagt ein Bauleiter, „wir bauen dieses Stadion seriös zu Ende. Wenn Sie ein Haus bauen, können Sie auch keinen exakten Zeitplan vorlegen.“ Ende November soll alles fertig sein.

In Breslau liegt noch Baustaub in den Wandelgängen, als das neue EM-Stadion seine Premiere erlebt. Mit einem Boxkampf zwischen dem Polen Tomasz Adamek und dem Ukrainer Witali Klitschko. Breslau ist keine Fußballstadt. Die Leute hier gehen gern zu Speedwayrennen im alten Olympiastadion, das seinen Namen nach einem Architekturwettbewerb im Rahmen der Berliner Spiele von 1936 bekommen hat. Die neue Arena hat die aufregendste Tribünenkonstruktion, sie reicht durchgehend vom Rasen bis unter das Dach.

Der Boxkampf ist angekündigt als polnisch-ukrainisches Freundschaftsfest vor der gemeinsamen EM. Dazu muss man wissen, dass beide Völker nicht unbedingt eine historisch gewachsene Freundschaft verbindet. In Breslau leben die Nachfahren vieler Vertriebener aus dem alten Ost-Polen, das heute zur Ukraine gehört. Klitschko prügelt seinen Widersacher windelweich, was die Stimmung nicht eben verbessert. Aber dann schwärmt er von der wunderschönen Stadt Breslau und diesem tollen Stadion. „Die Europameisterschaft kann die Ukraine und Polen verändern“, ruft Klitschko. Zaghafter Applaus verabschiedet ihn. Nicht das schlechteste Zeichen vor der größten Fußballveranstaltung, die Osteuropa je erlebt hat.

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