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Sport: Das Bewusstsein bestimmt das Sein

Der Schweizer Fußball-Verband verfolgt ein Nachwuchskonzept, das in Europa als vorbildlich gilt

Im Grunde basiert der Aufschwung des Schweizer Fußballs auf einer optischen Täuschung. Im Frühjahr 1995 reiste Hansruedi Hasler durch halb Europa, um sich ein Bild davon zu machen, wie in anderen Nationen der Nachwuchs ausgebildet wird. In Norwegen sah er an zwei aufeinander folgenden Tagen die U-16- und die U-17-Nationalmannschaft. „Ich hatte den Eindruck, ich hätte zweimal dasselbe Spiel gesehen“, sagt der technische Direktor des Schweizerischen Fußball-Verbandes (SFV). Die Norweger spielten damals ein System, das man nicht unbedingt mögen muss, mit langen Bällen nach vorne, ohne große technische Finesse, trotzdem war Hasler beeindruckt. „Es gibt verschiedene Stile“, sagt er, „aber den Stil, den man spielt, muss man auch beherrschen.“ Zwölf Jahre sind seit Haslers Reise durch Europa vergangen, und inzwischen gilt das von ihm entwickelte Ausbildungssystem europaweit als vorbildlich.

Das Bewusstsein bestimmt das Sein. Als erstes haben die Schweizer eine Idee entwickelt, wie sie spielen wollen, und aus der sich alles andere ergibt. Früher war das anders. „Es gab keine Spielkultur, die typisch für uns gewesen wäre“, erzählt Hasler. Mal spielten die Schweizer eher deutsch, mal eher französisch. Der neue Stil, der von der Nationalmannschaft, vom nationalen Nachwuchs und auch den Juniorenteams der Vereine gespielt wird, sieht einen konstruktiven, auf Angriff ausgerichteten Fußball vor. Die Teams stehen kompakt und provozieren den Gegner durch Pressing zu Fehlern. „Wir ziehen unsere offensive Philosophie voll durch“, sagt Fußball-Direktor Hasler nicht ohne Stolz.

Bei der U-17-Europameisterschaft 2005 benötigte die Schweiz gegen Kroatien noch ein Unentschieden zum Weiterkommen. Beim Stand von 2:2, eine halbe Stunde vor Schluss, wechselte der Trainer einen weiteren Stürmer ein. Die Schweiz verlor 2:5 und schied aus. „Das war trotzdem die richtige Entscheidung“, sagt Hasler. Das Gewinnen können die Spieler auch mit 18, 19 oder 20 noch lernen, das Spielen nicht mehr. Das ganze System ist sehr technisch ausgerichtet. Die Jugendlichen sollen täglich trainieren und pro Einheit auf 1000 Ballberührungen kommen.

„Der Schweizer Fußball ist gut organisiert und taktisch anspruchsvoll“, sagt Bundestrainer Joachim Löw, der mit seiner Mannschaft am Mittwoch in Düsseldorf auf die Schweiz trifft. Wie gut, das hat er im Mai 2006 erlebt, als sich die Nationalmannschaft in Genf auf die Weltmeisterschaft vorbereitete. Löw versuchte noch kurz vor dem Turnier verzweifelt, Deutschlands Verteidiger in die Geheimnisse einer Viererkette einzuweisen. In einem Test gegen die U 18 von Servette Genf konnten sie dann sehen, wie das Gebilde funktioniert. „Die U 18 in Genf, die U 19 in Basel oder die U 16 in Zürich – die beherrschen das alle“, sagte Löw. Und sie spielen es überall gleich.

Das Besondere am Schweizer System ist, dass der SFV den Klubs vorschreibt, wie die jungen Spieler ausgebildet werden. „Der Verband ist, um es mal ein bisschen überspitzt auszudrücken, bis in den kleinsten Verein hinein weisungsbefugt“, sagt Bernd Stöber, der Trainer der deutschen U-15-Nationalmannschaft. „Bei uns arbeitet jeder Verein autark.“ Stöber erinnert sich noch an die Aufregung, als die F- und E-Jugend-Mannschaften in Deutschland von elf auf sieben Spieler reduziert wurden.

In der Schweiz wird bereits fünf gegen fünf gespielt, damit die Kinder wirklich spielen. „Was das bei uns für einen Aufschrei gäbe!“, sagt Stöber. In der Schweiz spielen etwa 150 000 Jugendliche organisiert Fußball, in Deutschland sind es 14-mal so viel. Hansruedi Hasler erinnert sich noch an die Zeiten, als die Deutschen den Schweizern so weit voraus waren, „dass man uns höchstens gegen Südbaden hat spielen lassen“. Zwischen 1963 und 2001 konnte die Schweiz keine deutsche Jugendauswahl besiegen. „Wenn wir gegen Deutschland gespielt haben, hatte man schon beim Einlaufen der Spieler das Gefühl, die Deutschen seien fünf Zentimeter größer“, sagt Hasler.

Diese Zeiten sind vorbei. Die Schweiz wurde 2002 mit der U 17 Europameister, ihre U 19 und U 21 schafften es ins Halbfinale. An der Spitze der Nationalmannschaft steht mit Köbi Kuhn ein Trainer, der das Konzept nicht nur mitträgt, sondern es anfangs als Coach der U 18 entscheidend mitgestaltet hat. Für die WM im vorigen Jahr nominierte er bereits 19 Spieler, die das Nachwuchssystem durchlaufen haben. 2008, bei der EM im eigenen Land, könnten es noch mehr sein. Mehr als 30 Schweizer Youngster spielen mittlerweile im Ausland. Es belegt die neue Wertschätzung für den Schweizer Fußball. Andererseits bedauert Hasler, dass viele Talente für schnelles Geld zu früh das Land und das Ausbildungssystem verlassen. „Mit 16, 17, das ist sinnlos. Die verschwinden zum Teil im Nirwana.“

Der Nachteil, dass die kleine Schweiz nur über ein begrenztes Reservoir an Talenten besitzt, hat auch Vorteile. Die Jugendlichen werden sehr viel individueller betreut als in Deutschland. „Wir nehmen auch die ganzheitliche Persönlichkeitsentwicklung der Spieler ernst“, sagt Hasler, der nach seiner Karriere als Fußballer zum Doktor der Erziehungswissenschaften promoviert hat. Alle Junioren-Nationalspieler unterwerfen sich einem Verhaltenskodex, einer Art Vertrag, den sie mit ihrem jeweiligen Nationaltrainer schließen. Auch vermeintlich banale Dinge werden darin geregelt, zum Beispiel, dass jeder jeden per Handschlag begrüßt.

Als Hasler 1995 Technischer Direktor wurde, gab es in den Schweizer Vereinen gerade fünf hauptamtliche Nachwuchstrainer; inzwischen sind es 50. Drei Millionen Franken investiert der SFV pro Jahr in den Nachwuchs, doch der Erfolg ist keine Frage des Geldes. Das Talentförderprogramm des Deutschen Fußball-Bundes kostet fünfmal so viel. Matthias Sammer, Sportdirektor des DFB, hat schon zweimal mit Hasler telefoniert. „Was die in Frankfurt aushecken, ist gut“, sagt Hansruedi Hasler, „aber Matthias Sammer wird sich noch die Zähne ausbeißen.“

Die Schweizer Spielphilosophie im Netz: http://www.football.ch/sfv/de/Spielphilosophie.aspx

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