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Sport: Das Geschäft mit dem Nervenkitzel

Auf der Streif wird drastisch sichtbar, wie Abfahrtsrennen zum gefährlichen Spektakel aufgebaut werden

Berlin/Kitzbühel - Wenn die Sonne scheint, ist es nicht ganz so schlimm. Dann wird es erst ungefähr ab Startnummer 35 brutal. Genau festlegen will sich Stefan Stankalla da nicht. Alles hängt davon ab, wie stark die Sonne scheint, wann genau der Start ist und ob es Unterbrechungen gibt. Aber ab etwa 13.15 Uhr ist das Licht schlecht an der Hausbergkante, die Fahrer sehen wenig. Das ist fatal, wenn einer mit 120 Stundenkilometern auf die Kante zurast. Das ist besonders fatal, wenn das Ganze auch noch auf der schwierigsten Ski-Abfahrtsstrecke der Welt passiert, der Streif in Kitzbühel. Und wenn Schnee fällt, dann wird es schon vom ersten Läufer an gefährlich.

Stankalla ist im vergangenen Jahr noch die Streif gefahren, er war jahrelang einer der besten deutschen Abfahrer. 2004 hatte er die Startnummer 41, die Hausbergkante lag im Schatten, er hatte Angst, weil er nichts mehr sah. „Da habe ich Tempo herausgenommen“, sagt er. Am Ende landete er abgeschlagen. Nicht bloß wegen des Schattens, auch weil er nicht der Superfahrer war. Aber jeder redete nur über Stankalla, den Versager. Über die Gefahr, über die Probleme eines Läufers mit der Nummer 41 redete niemand. Der Start war um 12 Uhr.

Das ist Teil des Geschäfts. Stankalla ist im Frühjahr zurückgetreten. Das Geschäft mit der Angst und der Gefahr und dem Nervenkitzel aber geht weiter. Und nirgendwo im alpinen Skisport ist die Brutalität dieses Geschäfts so deutlich zu sehen wie auf der Streif. Heute findet die Hahnenkamm-Abfahrt statt, bei der Kameraleute Steigeisen an den Schuhen tragen, weil es so steil ist. Mausefalle mit 85 Prozent Gefälle, Hausbergkante, 80-Meter-Sprünge, der Kurs bietet alle Schreckensmomente. Ein österreichischer Abfahrtstrainer sagte einmal vor dem Start: „Die Fahrer sollten noch einmal zum Zahnarzt gehen, damit ihnen beim Training nicht die Plomben rauspurzeln.“

Das sind die kernigen Sprüche, die den Mythos Streif kultivieren. Auch das ist das Geschäft. Aber inzwischen ist der Grat zwischen kalkulierbarem Risiko und unkalkulierbarer Gefahr immer schmaler geworden. Es muss noch mehr Kitzel geben, für die Zuschauer, für das Fernsehen, für die Sponsoren. „Wenn man früher starten würde, dann hätten auch die Läufer mit höheren Startnummern noch einigermaßen gutes Licht“, sagt Stankalla. „Aber das wollen die Veranstalter nicht.“ Die Zuschauer sollen nicht gehetzt werden. Heute soll der erste Läufer um 11.30 Uhr auf die Strecke, obwohl gestern der Super-G wegen Regens und Sturm abgesagt wurde.

„Brot und Spiele“ nennt das Hubert Hoerterer zynisch, der langjährige Mannschaftsarzt der deutschen Ski-Nationalmannschaft. „Man kann uns schon ab und zu als Gladiatoren bezeichnen“, sagt Max Rauffer, der deutsche Abfahrer. Am Donnerstag setzten die Veranstalter trotz dichten Schneefalls und schlechter Sicht das Abfahrtstraining an. Bei der Anfahrt zur Hausbergkante stürzte der Österreicher Thomas Graggaber schwer. „Es war brandgefährlich. Man hätte gar nicht starten dürfen“, schimpfte Rauffer. „Ein Kampf ums Überleben“, ergänzte Christoph Gruber, der Trainingsbeste aus Österreich. „Die schwerste Trainingsfahrt meines Lebens.“ Erst nach Graggabers Sturz wurde abgebrochen.

Auf der Abfahrtsstrecke in Garmisch-Partenkirchen haben die Veranstalter wieder den Seilbahn-Sprung eingeführt. Den gab es früher schon, es war ein natürliches Hindernis, die Läufer sprangen zehn Meter weit. Dann wurde dort lange nicht gefahren. Seit zwei Jahren gibt es ihn wieder. Aber nun springen die Läufer 40 Meter weit, weil an der Kante ein Schanzentisch gebaut wurde. „Wegen des Fernsehens“, sagt Stankalla.

Max Rauffer weiß, dass Gefahren Teil eines Abfahrtslaufes sind. „Man hat die Möglichkeit, sich gut darzustellen und gutes Geld zu verdienen. Aber manchmal hat man auch das Gefühl, dass es nur noch um möglichst spektakuläre Bilder und nicht um den Sport geht.“

Ski alpin ist längst zur High-Tech-Materialschlacht geworden. Durch die Taillierung der Ski verlieren die Fahrer kaum noch an Tempo in den Kurven. „Heute wirkt dort auf die Fahrer das Drei- bis Vierfache der Erdbeschleunigung. Diese Kräfte hält der Bewegungsapparat nicht mehr aus“, sagt der Sportmediziner Hoerterer. Die Kurse müssen schon anders gesetzt werden, „sonst wären sie nicht mehr zu bewältigen“ (Rauffer). Auf der Streif sind die Tore an der Hausbergkante jetzt sehr weit gesteckt, damit das Tempo etwas reduziert wird. Aber das nützt nichts, wenn ein Skifahrer die Piste schlecht sieht. Der frühere deutsche Abfahrer Bernie Huber ist einmal mit einer hohen Startnummer an diese Kante gekommen. „Das ist der Wahnsinn. Da siehst du keine Wellen im Boden mehr.“ Egal. „Da machen auch die Industrie und die Medien enormen Druck“, sagt Hoerterer.

Auch Stankalla hatte einfach aufgegeben, bei einer Weltcup-Abfahrt in Norwegen. Der Wind wehte so stark, dass er den Schnee von den Bäumen blies. Da hatte Stankalla einfach abgeschwungen und aufgegeben. Irregulär, der Wettbewerb? „Ja, klar.“ Weshalb wurde er dann durchgezogen? „Weil es die letzte Abfahrt der Saison war. Man hatte keinen Ausweichtermin.“

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