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Sport: Das ging ins Auge Selbstbetrug

Bei seinem Comeback versagen dem früheren Boxweltmeister Dariusz Michalczewski die Reflexe

Michael Rosentritt

Den traurigsten Job des Abends hatten zwei Herren in Schwarz. Sie schoben die große Konfettikanone aus der Halle, ohne dass sie abgefeuert worden war. Die Eimer mit den glitzernden Schnipseln waren noch randvoll, die Stimmung dafür war im Keller. 16 000 Menschen waren in die Color Line Arena gekommen in der Hoffnung auf ein großes Boxspektakel, was sie zu sehen bekamen, grenzte an eine Hinrichtung im Boxring. Ihr Idol, der Deutsch-Pole Dariusz Michalczewski, wurde geschlagen, wie man es nicht mal seinem ärgsten Feind wünscht. Als die Konfettikanone endlich draußen war, taumelte der verbeulte Held orientierungslos durch den Ring.

Ein rechter Cross an die ungedeckte Schläfe und ein linker Haken schickten Michalczewski zu Boden. Dass der Ringrichter den Kampf noch einmal freigab, entspricht zwar den Regeln, war aber überflüssig. Nach einem weiteren schweren linken Haken drehte Michalczewski ab, ehe er nach zwei Minuten und 15 Sekunden der sechsten Runde final in die Seile fiel. Den Zuschauern stockte der Atem, für ein paar Sekunden war es mausestill in der riesigen Arena. Fabrice Tiozzo ließ sich zum Zeichen des Sieges den wuchtigen WBA-Gürtel um den Bauch legen. Der Franzose bleibt damit Weltmeister im Halbschwergewicht. Für Dariusz Michalczewski aber, den „Tiger“, war es ein blutiges Ende. Drei Millionen Euro Gage können seine Schmerzen lindern, nicht aber die Schmach.

Neun Jahre lang war der gebürtige Danziger Weltmeister gewesen. Vor 16 Monaten hatte er den Titel gegen den Mexikaner Gonzales verloren. Es war seine erste Niederlage im 49. Kampf. Für Michalczewski war sie eine große Qual. Aber vermutlich ist ein Leben ohne Boxen, ohne Ruhm und tobendes Publikum für ihn die viel größere Quälerei. Er startete sein Comeback. Er wollte es sich und seinen Fans noch einmal beweisen. Aber was eigentlich?

Schon in den beiden Kämpfen vor seiner ersten Niederlage hatte er viele Schläge einstecken müssen. Er gewann zwar, doch sein Gesicht war böse zugerichtet. Es waren reine Materialschlachten, wie es in der Branche heißt, wenn sich zwei Boxer auf Biegen und Brechen die Fäuste an die Köpfe knallen. Schon damals schwankten kritische Beobachter zwischen Bewunderung und Sorge. Wie lange hält ein Weltmeister solche Siege noch aus? Aus der Niederlage gegen Gonzales war er nicht schlau geworden.

Nun waren sie also alle noch einmal gekommen, seine Fans und Anhänger aus dem Milieu, dem Fernsehen und der Kunst wie Till Schweiger und der Maler Bruno Bruni. Was sie sahen, muss sie erschüttert haben. Michalczewski ist 36 Jahre alt. Zwölf Wochen lang trank er keinen Alkohol, täglich absolvierte er 500 Sit-ups. Er unterzog sich einer Entschlackungskur, ging in die Kältekammer ins Höhentrainingslager nach Zakopane in die Hohe Tatra. Der „Tiger“ sah aus wie immer: durchtrainiert, gute Beine und starke Arme. Doch was heißt das schon? Wie ist sein Distanzgefühl? Wie gut sind seine Reflexe noch? Die Antworten darauf gab der Franzose Tiozzo. In den Anfangsrunden traf er den „Tiger“, wie er wollte. Der „Tiger“ nahm viele Schläge, so ist es seine Art. Früher konnten solche Schläge ihm nichts anhaben, sie machten ihn wach und den Gegner müde. Es war ein hoher Preis, den er für seine Siege zahlte. „Seine Power steht keiner durch“, sagte einmal Trainer Fritz Sdunek über ihn. Doch das ist lange her. Noch ehe der „Tiger“ gegen Tiozzo auf Betriebstemperatur kam, war der Kampf aus.

„In der fünften Runde habe ich noch auf eine Wende im Kampf gehofft“, sagte Trainer Sdunek, „aber dann hat es eingeschlagen.“ Tatsächlich hatte Michalczewski die vierte Runde gewinnen können. „Ich wurde leichtsinnig – eine Zehntelsekunde, und du bist auf dem Boden“, sagte der „Tiger“ lapidar, der sich anschließend in einem hellen Sommeranzug der Presse präsentierte. Vor vier Tagen hatte er sich anders angehört. Seine nicht ganz ernst gemeinte Forderung, Tiozzo müsse ihn schon im Ring erschießen, wenn er Weltmeister bleiben wolle, hatte der Franzose trocken gekontert: „Wenn es so ist, muss ich es wohl tun.“

Jetzt steht er da mit seinen Schmerzen und seiner Schmach. Die Zuschauer werden bald einen neuen Helden finden. Was aber wird aus dem „Tiger“? „Ich werde erst mal mit meinem Promoter, dem Trainer und meiner Familie reden“, sagte Michalczewski. Das ist eine Ansicht, Einsichten hören sich anders an.

Der Boxer Michalczewski lebte von seiner außergewöhnlichen Physis und Kondition. Beides kann man sich antrainieren, auch jenseits der 30. Was ist aber, wenn das Distanzgefühl wegbleibt und die Reflexe versagen? Es gibt Boxer, die altern über Nacht. Der „Tiger“ aber alterte mit Ansage. Der Franzose Tiozzo ist sicher kein schlechter Boxer, er kann einstecken und gut austeilen. Aber einen solchen Gegner hätte der „Tiger“ früher aufgefressen.

Für einen Boxer ist es schwer, den richtigen Zeitpunkt zum Aufhören zu finden. Sven Ottke überraschte alle, als er nach einem siegreichen Kampf seinen Rücktritt erklärte. Ottke ist ungeschlagen und ohne wackligen Kopf abgetreten. Er hat den Kampf gegen sich selbst gewonnen. Michalczewski hat den Zeitpunkt, freiwillig abzutreten, verpasst. Der „Tiger“ hat ein Herz wie ein Löwe, jetzt muss man ihn vor sich selbst schützen.

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